Ausstellungen

Malen nach Qualen

Die Berliner Kunst-Werke würdigen die Kolumbianerin Beatriz González mit einer faszinierenden Retrospektive

Von Laura Storfner
23.11.2018

Auf den ersten Blick scheint alles friedlich. Ein junges Paar schaut dem Betrachter aus einem Gemälde lächelnd entgegen. Beide haben sich zurechtgemacht: Sie trägt ein Tuch über dem gewellten Haar, er Hut und Krawatte. Gemeinsam halten sie einen Blumenstrauß in den verschlungenen Händen. Wer sind die Liebenden? Ein Paar am Tag seiner Hochzeit? Zwei Frischvermählte, die zum Familienporträt gebeten werden? „Los Suicidas Del Sisga“ hat Beatriz González das Werk von 1965 genannt: die Selbstmörder von Sisga. Mit ihrem Gemälde hielt sie nicht den Beginn einer gemeinsamen Zukunft fest, sondern das Ende. Das Paar, das sich aus religiösem Fanatismus und verliebtem Übermut gemeinsam in den Freitod stürzte, ließ seine letzten Minuten von einem Fotografen festhalten.

Das Abschiedsfoto, bestimmt für Freunde und Verwandte, landete in allen Lokalzeitungen Bogotás. „Im Druck erschienen die Gesichtszüge der beiden reduziert, beinahe deformiert – das hat mein Interesse geweckt“, erinnert sich González später. Indem sie die schlechte Qualität des Zeitungsausschnitts in ihrer eigenen Ausführung betonte, die verwischte Druckerschwärze, die Blitzer und verschwommenen Konturen in knallbunte, flächige Farbfelder überführte, kommentierte sie auch das Niveau, mit dem die Klatschpresse Geschichten wie die des jungen Paars bis heute ausschlachtet: Das private Schicksal zweier Menschen erscheint grell ausgeleuchtet auf der Titelseite, am nächsten Tag ist es bereits vergessen.

González verarbeitet die Konflikte in Kolumbien

„Los Suicidas Del Sisga“ ist nur eine von rund 120 Arbeiten, mit denen die Berliner Kunst-Werke González hierzulande erstmals umfassend würdigen. Nach Stationen im Museum für zeitgenössische Kunst in Bordeaux und dem Nationalmuseum Reina Sofía in Madrid präsentiert die Retrospektive mit Werken aus über 50 Jahren eine Künstlerin, die in Kolumbien als Grande Dame verehrt wird, in Deutschland jedoch – trotz ihrer Teilnahme an der documenta 14 – noch immer weitestgehend unbekannt ist. González, geboren in Bucaramanga, war gerade einmal 27 Jahre alt, als ihr mit „Los Suicidas Del Sisga“ in ihrer Heimat der Durchbruch gelang.

Kritiker meinten in ihrem Umgang mit Farbe und der Aneignung von massenmedialen Bildern eine Nähe zur Pop-Art zu erkennen und feierten sie als lateinamerikanische Stilvertreterin. González selbst konnte sich jedoch nicht recht mit der Strömung identifizieren, zu groß schienen ihr die sozialen Unterschiede zu den Künstlern im Westen. Rückblickend betont sie immer wieder, dass es nicht die Konsumwelt war, die sie abbilden wollte. Ihr Interesse galt den Konflikten im eigenen Land, der Scheindemokratie, Korruption und dem Drogenkrieg. Ihren Blick richtete sie auf das Randständige, Profane und Provinzielle.

Spiel mit dem westlichen Kunstkanon

Der Umgang der Kolumbianer mit Schlüsselwerken der europäischen Kunstgeschichte faszinierte sie besonders. Auf ihren Streifzügen durch die Antiquariate Bogotás entdeckte sie billige Reproduktionen von da Vincis „Letztem Abendmahl“ oder Ingres’ „Türkischem Bad“, die losgelöst von ihrer ursprünglichen Bedeutung als Talismane, Werbeposter oder Buchillustrationen zweitverwertet werden. Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der in ihrer Umgebung Hochkultur in Kitsch verwandelt wurde, begann González, Handwerk und Kunst zu verbinden: Sie verfremdete die Alten Meister, befreite ihre Motive von jeglichem Dekor und montierte ihre Leinwände schließlich auf ausrangierte Möbel, die sie auf Märkten und am Straßenrand fand. Sie stieß die Überväter der westlichen Malerei von ihren Sockeln, gab ihnen ein zweites Leben als Haushaltswaren.

Eine psychedelische Interpretation der „Mona Lisa“ kombinierte sie mit einem hölzernen Garderobenständer, eine Variation von Manets „Le Déjeuner sur l’herbe“ – verblasst und verzerrt – übertrug sie auf einen überdimensionalen Vorhang. Indem González sich auf das Spiel aus De- und Rekontextualisierung einließ, lieferte sie eine humorvolle Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Sozialisierung, transportierte jedoch zugleich ein Aufbegehren gegen Kolonialismus und den übermächtigen westlichen Kunstkanon.

Politische Aussagen in stilisierter Form

Zu formalen Spielereien wie diesen war sie ab den Achtzigerjahren immer seltener aufgelegt. Statt Trivialkultur zu untersuchen, arbeitete sie sich an den Unruhen in ihrer Heimat ab. Als unter Präsident Julio César Turbay Ayala eine Repressionswelle über Kolumbien hereinbrach, die Regimekritiker der willkürlichen Verfolgung aussetzte, deutete sie ihre Praxis politisch um. Auf einem meterlangen Vorhang entdeckt man Ayala in mehrfacher Ausführung, wie er sich, umgebend von einer Menschentraube, auf einer Party amüsiert.

Die Szene schuf González nach einem Zeitungsausschnitt, karikieren musste sie ihre Figuren nicht, die Situation an sich war grotesk genug. „Champagner für mich, Folter für die anderen“ hätte der Werktitel lauten können. González hat die Arbeit schlicht „Decoración de interiores“ – Innenausstattung – genannt. „Als ich den Vorhang zum ersten Mal öffentlich ausstellte, war die Galerie voller Polizisten“, erzählt sie rückblickend. „Zweifelsohne war mein Werk ein Beweis dafür, dass ich dem Präsidenten kritisch gegenüberstand. Aber erst diese Reaktion gab mir einen Eindruck davon, wie viel Einfluss ich mit meiner Arbeit nehmen konnte.“ Was ihr Œuvre wie ein blutroter Faden durchzieht, sind die Geschichten der Unterdrückung, die sich erst auf den zweiten Blick offenbaren. Ihre Kritik am politischen System, das Gewalt in Kolumbien alltäglich werden ließ, verbirgt sich hinter heiteren Masken, tarnt sich unter strahlenden Schichten aus Orange, Türkis und Gelb. Mit der Malerei ruft sie Opfer wie Täter in Erinnerung, zwingt zur Aufarbeitung von Vergangenheit. Ihre Bilder, so González’ Credo, füllen die Lücke, die die Geschichtsschreibung nicht schließen kann.

Service

Ausstellung

Berlin „Beatriz González. Retrospective 1965 – 2017“,
KW Institute for Contemporary Art, bis 6. Januar

Dieser Beitrag erschien in

Kunst und Auktionen Nr. 19/2018

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