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Warum Nietzsches Felsen jetzt in Münster steht

Bei den Skulptur Projekten 2017 in Münster gehören Wunder zum Programm. Doch über nichts lässt sich besser staunen, als über Justin Matherlys künstlichen Denkerstein

Von Tim Ackermann
15.09.2017

Friedrich Nietzsche prägte das Aperçu, dass der Glaube zwar keine Berge versetze, wohl aber Berge hinsetze, wo es keine gebe. So gnadenlos rechnete der Philosoph in seinem Spätwerk „Der Antichrist“ mit den Fiktionen der Kirche ab. Wahrscheinlich dachte Nietzsche bei der Niederschrift seines Satzes nicht gerade an Münster. Und doch steht auch dort, in Westfalens flacher Hauptstadt, nun ein Berg, den es zuvor nicht gab. Nicht der Glaube, aber doch immerhin die Kunst hat ihn in den kleinen Park am zentralen Servatiiplatz gesetzt.

Drei Meter ragt er auf und lockt die Münsteraner, die neugierig vom Fahrrad steigen, um ihn zu erklimmen. Der Künstler Justin Matherly hat die Skulptur aus Beton geschaffen und ihr den Titel „Nietzsche Felsen“ gegeben – nach einer Steinformation im Schweizerischen Surlej, wo dem Philosophen angeblich erstmals der Gedanken einer ewigen Wiederkunft kam. Was eine nette Pointe bietet: Denn Matherlys Werk ist eine Kopie des Denkerfelsens am Ufer des Silvaplaner Sees. In Originalgröße.

In Münster kann man über das Wasser wandeln

Die fünfte Ausgabe der alle zehn Jahre in Münster stattfindenden Skulptur Projekte bringt Wunder in die Stadt – schließlich werden bei dieser Superschau der Kunst im öffentlichen Raum nicht allein Berge versetzt. Das Publikum kann auch auf dem Wasser wandeln: Im Hafenbecken am Dortmund-Ems-Kanal hat die Istanbuler Künstlerin Ayşe Erkmen einen Steg versenkt, und die Menschen schlurfen barfuß darüber, während ihnen die Fluten um die Knöchel schwappen. Das sieht, aus der Ferne betrachtet, rätselhaft und magisch aus. Ähnlich ungläubiges Staunen befällt den Betrachter, wenn der Berliner Künstler Aram Bartholl auf der Wiese neben dem Theater im Pumphaus ein Handy an der Hitze eines simplen Lagerfeuers auflädt – ein spezieller Thermogenerator macht es möglich. Und dann gibt es noch die Alptraumlandschaften des Franzosen Pierre Huyghe in einer stillgelegten Eisbahn, eine höllische Dystopie mit aufgerissenem Erdboden, herumschwirrenden Bienen und einem Brutkasten, in dem sich menschliche Krebszellen bis zum Jüngsten Tag unablässig selbst teilen.

Aber auch Lustiges kann man in Münster sehen: Der Amerikaner Michael Smith hat mit dem Projekt „Not Quite Under_ Ground“ ein funktionsfähiges Tattoo-Studio für flippige Senioren am Hansaring eröffnet. Und doch ist es der künstliche Philosophen stein von Justin Matherly, der die längste Beschäftigung lohnt, wenn man sich bei den Skulptur Projekten Münster für den Begriff der Skulptur im engen Sinn interessiert.

Nähert man sich dem „Nietzsche Felsen“, fallen schmale Spalten an seiner Flanke auf, die den Hohlraum im Inneren durchblitzen lassen. Sie sind ein Ergebnis von Matherlys Arbeitsweise: Um die Dimensionen des Felsens zu simulieren, stapelte der Amerikaner zuerst 500 Polystyrolplatten aufeinander, aus denen er dann mit einer elektrischen Säge die Form herausschnitt. Auf dieses Urmodell drapierte er Plastiksäcke, gefüllt mit flüssigem Beton. Nach dessen Erkalten setzte er aus den vier bis fünf Zentimeter dicken Betonteilen sein Werk zusammen – wobei jeder Schritt im Prozess von Aufbauen, Abtragen, Gießen und erneutem Aufbauen seine eigenen Unstimmigkeiten hervorbringt, die alle dafür sorgen, dass die Puzzleteile am Ende nicht mehr hundertprozentig zusammenpassen wollen. Das liegt auch an der Unberechenbarkeit des Materials: „Ich mag Beton, weil er sehr flexibel ist“, sagt Matherly. „Aber er lässt sich dadurch nur schwer kontrollieren. Vieles läuft anders als geplant.“

Der Künstler steht auf der Wiese neben seinem Kunstwerk. Im Schatten der umgebenden Hochhäuser und Bäume wirkt der Fels wie ein Fremdkörper und fast ein wenig verloren. Hätte Matherly ihn lieber ein bisschen größer als das Original gemacht? „Nein“, antwortet der Künstler. „Das wäre fatal für mein physisches und geistiges Wohlergehen gewesen.“ Auch so hat er vier Monate an dem Werk gearbeitet, zeitweise halfen ihm zwei Assistenten, und er benötigte einen kleinen Kran, um die Teile zu montieren. Zweieinhalb Tonnen Beton sind auf 45 Gehhilfen aufgebockt, deren metallene Füße unter dem Werk ein Stück herausragen, der Fels schwebt deshalb ein paar Zentimeter über dem Boden. „Ich wollte ihm eine gewisse Leichtigkeit geben“, sagt Matherly.

 

Es ist klar, dass der „Nietzsche Felsen“ die Ebene der Hommage transzendiert, auch wenn der Künstler eigens Recherchen am Silvaplaner See anstellte – auf einer „Pilgerfahrt“, wie er sagt – und den deutschen Philosophen auch allgemein wegen dessen radikaler Skepsis schätzt. Für reine Nietzsche-Glorifizierung wirkt die zusammengenietete Außenhaut des Werks zu verletzlich. Zudem hat Matherly absichtlich kleine Schönheitsfehler gelassen. An der Unterkante des Felsens erkennt man die ursprüngliche Struktur der Polystyrolplatten, und weiter oben hat der Künstler Vorsprünge stehen lassen, auf die er sich beim Hantieren mit der Säge stellte. Schuhabdrücke sind im Beton zu sehen, ebenso wie an anderen Stellen, wo er gegen den Plastikberg trat. „Erinnerungen“ nennt Matherly diese konservierten Zeugnisse des Schaffensprozesses, die die Aufmerksamkeit des Betrachters aufs Detail lenken und die allzu reibungslose Identifikation mit dem großen Ganzen verhindern. „Es ist wichtig, Distanz zu schaffen“, sagt Matherly.

Mit der Methode der Distanzierung als eine Art gedanklicher Membran hat der 1972 in West Islip (Long Island) geborene Künstler, der erst an der University of Pennsylvania in Philadelphia und danach am Hunter College in New York studierte, schon mehrfach gearbeitet: 2011 zeigte er in der Galerie Marginal Utility in Philadelphia eine Betonversion des berühmten Torsos vom Belvedere – von dem er zunächst nur in den Schriften des deutschen Archäologen Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) gelesen hatte. Und 2013 präsentierte er bei König in Berlin einen Löwen- und einen Adlerkopf aus Beton, die man im Original auf der türkischen Ausgrabungsstätte Nemrut Dağı finden kann. Matherly hatte als Vorlagen allerdings Fotografien aus einen alten Buch der amerikanischen Archäologin Theresa Goell (1901–1985) benutzt. Dass Bilder anderen Bildern vorangehen, dass wir Kunst durch Kunst sehen, ist ihm so zur Arbeitsphilosophie geworden. „Die Kunstgeschichte ist wie für mich wie eine Landkarte, auf der ich unterschiedliche Routen wählen kann“, sagt Matherly.

Ureigen scheint dagegen seine Idee, die Skulpturen auf Gehhilfen als Sockeln zu präsentieren. Zuerst baute er sie selbst aus Holz. Seit 2009 bevorzugt er gewöhnliche Fabrikproduktionen aus Metall. Die filigranen Beine unter den massigen Betonkörpern wirken als weiteres Irritationselement – und Matherlys Skulpturen durch ihre ironische Selbstreferentialität enorm zeitgemäß. Sie strotzen vor visueller Kraft. Darüber hinaus bestechen die Gehhilfen mit dem ganz praktischen Vorteil, dass sie als Massenerzeugnisse der Gesundheitsindustrie für enorme Lasten ausgelegt sind. „Manchmal stelle ich mir vor, dass meine Skulpturen krank und altersschwach sind und Stütze benötigen“, erzählt Matherly. Er könnte mit diesem Gedanken nicht falscher liegen.

Service

Abbildung:

Henning Rogge

Ausstellung:

„Skulptur Projekte 2017“, Münster,
bis 1. Oktober

DIESER ARTIKEL ERSCHIEN IN

Weltkunst Nr. 132/2017

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