Ausstellungen

Gegen den Strom

Andreas Mühe gilt als Chronist des wiedervereinigten Deutschland – eine Rolle, die er ebenso gern erfüllt wie bricht. In Hamburg breitet man derzeit  sein Schaffen aus, wir trafen ihn an seinem Lieblingsort: dem Ostseestrand

Von Christiane Meixner
31.07.2017

Ein Spiegel, die Kamera, der Felsen: Es hat Wochen gedauert, bis alles zusammenpasste. Vier oder fünf, ganz einig sind sich Andreas Mühe und sein Assistent Sebastian Treytnar da nicht. Dafür wissen beide noch sehr gut, wie schwer der Spiegel war. Dass sie ihn täglich für die geplanten Fotografien um 4.30 Uhr morgens einige Kilometer weit bis zu den Wissower Klinken geschleppt haben, die gern mit den Kreidefelsen verwechselt werden. Doch dann stimmte das Licht in der schroffschönen Landschaft nicht, vor der aufgehenden Sonne war ein Wolkenband, es fing zu regnen an – und schließlich musste Mühe sich ja noch ausziehen. 

Die große Hamburger Ausstellung

Was für ein Perfektionist er ist, weiß man schon nach einem Blick in seine aktuelle Ausstellung. Das Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen widmet ihm einen großen Rückblick, zeigt fotografische Serien wie „Obersalzberg“ (2012) oder „A. M. – Eine Deutschlandreise“ (2013), seine Bilder von Helmut Kohl und Angela Merkel – und jenes Selbstporträt an der Ostsee. Es hat doch noch geklappt: Mühe steht nackt vor einem Sonnenaufgang à la Caspar David Friedrich, der Spiegel sorgt für sanft reflektiertes Licht. Bloß die Geste des Fotografen bricht mit aller Romantik: Er scheint zu pinkeln.

Mühe ist kein Selbstdarsteller

„Vielleicht onaniere ich auch“, sagt Mühe an diesem Nachmittag am Strand. Sofort ist das Gespräch befangen, und man ahnt, weshalb die drei monumentalen Aktfotografien in den Ausstellungskritiken so selten erwähnt werden. Dabei sind es eindringliche Arbeiten. Und sie zeigen, was selten genug ist, den Fotografen. Mühe, 1979 in Karl-Marx-Stadt als Sohn der Regisseurin Annegret Hahn und des Schauspielers Ulrich Mühe geboren, ist kein Selbstdarsteller. Aber er fordert Aufmerksamkeit, wenn er sich mit Techniken der Inszenierung auseinandersetzt, wie sie Leni Riefenstahl oder Hitlers Fotograf Walter Frentz für ihre Aufnahmen verwendet haben. Wenn er frisch geschossenes Wild fotografiert oder nach den privaten Momenten im Leben politischer Repräsentanten sucht: Egon Krenz, der eine Hecke stutzt, oder Angela Merkel im Schatten eines mächtigen Baumes. Vor einigen Jahren galt Mühe plötzlich als „Kanzlerfotograf“, weil  sich Merkel mehrfach von ihm ablichten ließ. Daraufhin steckte er seine Mutter in farbige Blazer, fotografierte sie auf einer Tour durch Deutschland – und ließ es so aussehen, als habe er die Kanzlerin reisend begleitet. Das ist Mühes Art, mit Erwartungen zu brechen.

Die Bilder sind lange zuvor im Kopf

Entspannt erlebt man ihn am Meer. Nach Wustrow kommt er seit seiner Kindheit, und hier fällt auch die wichtigste Frage: „Kann ich heute noch surfen?“ Andreas Mühe wirkt geradezu vernarrt in die Ostsee, obwohl – oder eben auch weil – sie heute ganz grau in den ähnlich griesigen Horizont wächst. Es ist kühl, der ablandige Wind kämmt ordentlich Wellen in das Wasser und im hellen Sand auf dem Weg nach Ahrenshoop tummeln sich statt Urlaubern bloß Möwen. Der junge Hund des Fotografen, ein Deutsch-Kurzhaar, ist begeistert und möchte sie am liebsten sofort apportieren. Und Andreas Mühe? Ist unentschlossen, ob er den Tag nach dem Stress der vergangenen Wochen – den Vorbereitungen zur Ausstellung, ihrer Eröffnung und den privaten Führungen durch die Schau – zum Ausruhen nutzen soll. Ob er in einen langen Spaziergang mit der ausgelassenen Hündin mündet oder doch im Wellenreiten. Jedenfalls würde er dann endlich sein Handy nicht mehr hören, dass auch am Sonntag in regelmäßigen Abständen klingelt. 

 

Wenn der Fotograf telefoniert, schaut man ihm staunend zu. Sein Handy ist ein Fall fürs Kommunikationsmuseum, es kann weder Mails empfangen noch Fotos aufnehmen. Fotografieren würde er damit ohnehin nicht, das schnelle digitale Bild hat für Mühe keinen Reiz. Auch seine Kamera stammt aus analogen Zeiten und macht die Arbeit zum Experiment, weil das Motiv erst nach der Entwicklung sichtbar wird. Kein Problem für ihn, sagt der Fotograf. Die Bilder habe er lange vorher im Kopf – klar wie eine Malerei. Am schwierigsten sei es, diese Situation umzusetzen. Weil die Wirklichkeit oft nicht mitmacht und es wie im Fall der Wissower Klinken Wochen dauert, bis endlich alles stimmt.

Aber weshalb hat er sich dort nackt gemacht? Soll die kleine, verletzliche Figur im Goldlicht die Wucht der übermächtigen Natur noch einmal betonen? Vielleicht habe er sich auch einfach ausziehen wollen, nachdem er für seine Serie „Obersalzberg“ so viele Akte fotografiert hat. „Oder ich musste das jetzt einmal in der Mitte meines Lebens tun.“ Und die Geste? Will Mühe die Erhabenheit des Moments unterlaufen? Zu viel Schönheit und Pathos, von dem ja auch im Titel der Hamburger Ausstellung die Rede ist. „Pathos als Distanz“ heißt es da, in der Variation eines Schlagworts von Friedrich Nietzsche, das dem Philosophen die Überlegenheit des Distanzierten suggiererte. Andreas Mühe geht am Strand von Wustrow in Richtung Ahrenshoop, den Blick auf die vom Wasser rund gewaschenen Kiesel gerichtet und spricht von der überwältigenden Wirkung der Natur. Pathos als Mittel, um die eigene Berührtheit auszudrücken – im Wortsinn und so eindringlich ins Bild gesetzt, wie man es von seiner kompromisslosen Kunst kennt.

Service

Ausstellung

„Pathos als Distanz“, Haus der Photographie, Deichtorstraße 1–2, Hamburg, bis 20. August

Zur Startseite