Ausstellungen

Die glorreichen Reiter der Documenta

Auf der Balkanroute: Der Künstler Ross Birrell hat vier Reiter im Rahmen der Documenta von Athen nach Kassel geschickt. Wir haben sie auf ihrem 3000 Kilometer langen Abenteuer ein Stück begleitet. Eine Geschichte von Wildnis und Grenzkontrollen

Von Tim Ackermann
07.07.2017

Über das Fenster des Veterinäramtes von Kilkis haben die Schwalben ein Nest gebaut. Alle paar Minuten rauscht die Vogelmama oder der Vogelpapa im Sturzflug heran, bremst abrupt ab, hüpft elegant ins Nest, füttert die Kleinen, rauscht wieder ab. Es ist ein auf beruhigende Weise friedliches Schauspiel, das die Natur dort draußen aufführt, während drinnen ein erbitterter Papierkrieg tobt. In der Bürostube sitzt auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch ein Mann mit Cowboyhut, schmutzigen Reitstiefeln und weißem Rauschebart. Seit mittlerweile einer Stunde redet Peter van der Gugten, Wanderrittführer aus der Schweiz, auf eine nach wie vor skeptische Veterinärbeamtin ein und versucht ihr zu erklären, warum er dringend einen Stempel auf seine Zollpapiere braucht. Der Fall beschäftigt schon höchste Kreise im entfernten Athen, das Ministerium ist involviert. Nun kommt der Amtschef selbst zur Tür herein, legt den Stempel auf den Tisch. Diskussion auf Griechisch. Der Amtschef verlässt den Raum. Die Beamtin steht auf und trägt ihm den Stempel hinterher. Lage ungeklärt. Und unter dem Cowboyhut macht sich ein Grinsen breit, halb belustigt, halb verzweifelt. Vor dem Fenster schwingt sich eine Schwalbe ins Blau des Vormittagshimmels. Schwalben sind Zugvögel. Grenzen müssen sie nicht kümmern. Das unterscheidet sie von anderen Tieren. Von Pferden zum Beispiel.

Drei Jahre ist es her, dass der schottische Künstler Ross Birrell und der polnische Kurator Adam Szymczyk bei einer gemeinsamen Zugfahrt ein außergewöhnliches Projekt entwickelten: Sie würden einen Trupp von Wanderreitern durch Südosteuropa ziehen lassen. Und nun ist Birrells mobiles Kunstwerk „The Transit of Hermes“ wirklich Teil der Documenta geworden. Die berühmteste Kunstausstellung der Welt findet alle fünf Jahre statt. In Kassel – wo sie 1955 erfunden wurde. Diesmal hat Adam Szymczyk als aktueller künstlerischer Leiter jedoch die Regeln verändert: Eine Hälfte der Schau wurde bereits im April eröffnet, in Athen. Die Documenta 14 spielt sich also in zwei Städten ab. Und Ross Birrells Kunstwerk ist zum symbolischen Band geworden, das die beiden Orte verbindet: 3000 Kilometer legen vier Reiter mit ihren Pferden von Athen nach Kassel zurück. Feldwege und Gebirgspfade führen sie durch Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich und Deutschland. Am 9. April ist der Trupp aufgebrochen, und wenn er am 9. Juli sein Ziel erreicht, werden die Reiter fast 100 Tage unterwegs gewesen sein, angelehnt an die Laufzeit der Documenta als „Museum der 100 Tage“. Es handelt sich, kurz gesagt, um eine moderne Heldenerzählung mit heroischen Taten, ungewöhnlichen Begegnungen und dem Beistand eines himmlischen Begleiters: Hermes ist sein Name.

 

Der griechische Götterbote, um den es hier geht, hat dunkelgraues Fell mit weißen Punkten. Hermes ist sechs Jahre alt und eine Schönheit. Gekauft und getauft hat ihn Birrell vor einem Jahr in Arkadien, jener mythischen Hirtenregion des Peloponnes. Als fünftes Ross im Trupp trägt Hermes keinen Sattel, läuft als Packpferd mit und gilt dennoch als Star der Reise. Der kleine Arravani soll beweisen, dass diese fast verschwundene Rasse griechischer Gangpferde immer noch Kämpfer hervorbringt, die einen solchen Ritt durchstehen. „Ohne Hermes wäre das Werk unvollständig“, erklärt Birrell bei einem Treffen in Athen. Schlimmer noch, es hätte den Anschein gehabt, die Documenta-Macher aus dem Norden wollten das Projekt ohne lokalen Bezug durchziehen. Deshalb trabt nun der vierhufige Reisegott aus Griechenland nach Deutschland.

Der Erlebnisbericht vom Pferderücken herab ist kein ganz unbekanntes Genre. Auch Goethe hat ja 1786 für seine Italienische Reise die Welt nicht allein vom Kutschenpolster aus betrachtet. Inspiration für „Transit of Hermes“ war allerdings der legendäre Zahnfleischritt des Schweizers Aimé-Félix Tschiffely, der von 1925 bis 1928 auf zwei argentinischen Criollo-Pferden die 10.000 Meilen von Buenos Aires nach New York bewältigte und dabei Gebirge, Dschungel und Wüsten überwand. „Ich halte Tschiffely für einen Künstler“, sagt Birrell. „Denn er hatte den Willen, etwas Undenkbares zu kreieren.“ Spektakuläre Durchhalteprojekte sind tatsächlich in der Konzeptkunst ein alter Schuh: Bereits 1973 durchquerte der walking artist Hamish Fulton die Britische Insel von der Nord- bis zur Südspitze. Und die passende Theorie dazu gibt es noch ein bisschen länger: 1955 prägte die Künstlergruppe der Situationistischen Internationale um Guy Debord den Begriff der „Psychogeografie“, um zu hinterfragen, wie Räume unsere Wahrnehmung steuern.

Es ist zudem ein lustiger Zufall, dass die akademische Disziplin der „Spaziergangswissenschaft“ in den achtziger Jahren in Kassel erfunden wurde. Sie versucht, mit der Methode des experimentellen Flanierens Erkenntnisse über unsere Umwelt zu gewinnen. In seinem 1995 veröffentlichten Grundlagenaufsatz schreibt Lucius Burckhardt, Soziologe und Begründer der Promenadologie: „Wenn bei einem Spaziergang zu Fuß oder zu Pferde – mit der Durchquerung von Dorf, Fluß, Tal, Hügel – die Eigenheiten einer begrenzten Landschaft im Kopf integriert und damit wahrgenommen werden können, so werden mit dem Auto sehr viel größere Landschaftseinheiten befahren. Viel heterogenere Eindrücke müssen zu einer viel abstrakteren Ideallandschaft integriert werden.“ Dies ist ein wichtiger Punkt: Mit dem Fuß oder dem Huf begreift sich der durchmessene Raum langsamer, aber leichter. Lässt sich beim Reiten von Athen nach Kassel, über sechs Ländergrenzen hinweg, vielleicht sogar ein so hochabstraktes Gebilde wie Europa verstehen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir erst mal zum Anfang der Strecke zurück.

9. April: Athen

Dionysiou Areopagitou heißt eine für Spaziergänger reservierte Straße am südlichen Hang der Akropolis. Die grünen Kiefern am Wegesrand bieten hier einen zauberhaften Rahmen für das Weiß des brüchigen Parthenon-Architravs oben auf dem Hügel. Wenige Schritte entfernt, im Dionysostheater, lauschte die Antike erstmals den Versen von Aischylos, Sophokles und Euripides. Vor dieser Kulisse, sozusagen dem Nullkilometer der attischen Demokratie, baut sich der „Transit of Hermes“ zum Aufbruchsgruppenfoto auf: Peter van der Gugten hockt auf Artvin,­ einem schwarzen Kabardiner, den Cowboyhut tief in die Stirn gezogen. Den folkloristischen Hingucker liefert an diesem Tag der ungarische Rittführer Zsolt Szabo: Tracht, Stirnband und lange graue Mähne. Der Criollo Sanchez unter ihm ist eher beigefarben. Den Aspekt Sicherheit repräsentiert der weiße Sturzhelm von David Wewetzer. Der Dozent für Informatik aus Bremerhaven reitet einen hell­braunen Karabagh namens Issy Kul. Und Tina Boches grauer Gauchohut bringt den Style der argentinischen Pampa nach Athen.­ Die Ranchbesitzerin aus dem Kreis Augsburg wird die 3000 Kilometer auf ihrem blonden Haflinger Paco absolvieren. Hermes schiebt sich im Bild rechts in den Vordergrund.

 

Die Mittagssonne röstet dem Athener Publikum den Nacken. Und wie bei allen symbolischen Akten übertrifft die zeremonielle Aufregung das eigentliche Erlebnis. Die Reiter reiten nicht, sie stehen herum. Der Presseandrang ist dennoch immens. Eine Journalistin schubst den filmenden Ross Birrell aus der Sichtachse. Documenta-Leiter Szymczyk übt sich in seiner Rede im Ungefähren: „Dieser Ritt ist keine Metapher, er ist zuallererst eine körperliche Handlung“, sinniert er. Sanchez bekommt derweil ein wenig Wasser aus einer Flasche. Konkreter verkündet dann David Wewetzer, dessen unbeirrbare Ernsthaftigkeit ihn zum Sprecher der Gruppe macht, das eigentliche Ziel der Reiter: „Wir wollen daran erinnern, dass das Pferd in der Landschaft zum Kulturerbe Europas gehört.“ Wanderreiter verschreiben sich häufig der Rekener Charta, welche für Pferde die unbegrenzte Nutzung der alten Handelsrouten des Kontinents fordert. Diese sind jedoch vom Paragrafendschungel der europäischen Bürokratie zugewuchert. Und so ahnt man es bereits: Über das Gelingen des Projekts wird an diesem Tag noch nicht entschieden. Wir vereinbaren mit den Reitern, dass wir sie zweimal besuchen werden, um sie ein Stück auf ihrem Weg zu begleiten.

28. April: Von Kilkis in Griechenland nach Balintsi in Mazedonien

Die Landschaft nördlich von Thessaloniki hat mit ihren sanften grünen Wellen die visuelle Aufgeregtheit von Westfalen. Unser Ziel ist Rancho, ein von Sotiris Patsiouras und seiner Frau Yiannoula Mitona geführter Reiterhof, der echtes Wildwest-Gefühl ins alte Europa transportiert. Über den Reitplatz rieselt Dolly Parton aus Lautsprechern, während Teenagermädchen auf Pferden ihre Runde drehen. Die Sonne scheint. Der flache Horizont ist voller Versprechungen.

Drei Wochen, vollgepackt mit neuen Eindrücken, liegen hinter den Reitern. Sie schwärmen immer noch von der schroffen Schönheit des Pindos-Gebirges, das ihnen einiges abverlangt hat: Auf 1700 Metern galt es Schneewände zu umgehen. Andernorts riss dichtes Buschwerk an Hosen und Händen. Oft war der in der Karte eingezeichnete Weg ein paar Kilometer hinter dem letzten Dorf ganz verschwunden. „In den Anden kann ich auch auf 4000 Metern noch problemlos reiten“, erzählt Tina Boche, die in Buenos Aires geboren wurde, „denn dort werden die Pfade von Hirten ständig genutzt.“ Als Belohnung für die Strapazen nennt sie: Sonnenaufgänge und Sternenhimmel. Ihren Tagesrhythmus hat die Gruppe nach drei Wochen gefunden. Gegen 6 Uhr wird Trailboss Peter van der Gugten wach, zwei Stunden später reiten sie los. Mittags gibt es eine längere Pause, da werden Brot, Käse und Salami verzehrt, und ab 18 Uhr halten die Reiter nach der passenden Wiese für das Nachtlager Ausschau. Die grobe Route steht zwar fest, aber wie weit sie an einem Tag tatsächlich kommen, wissen sie nie. Geschlafen wird meist unter einer aufgespannten Plane im Freien.

 

Eine schlechte Nachricht gibt es doch: David Wewetzer ist vom Pferd gefallen und nicht mehr dabei. Hinter Delphi brach der Hund eines Jägers aus dem Gebüsch. Issy Kul sprang erschrocken zur Seite, Wewetzer rutschte zu Boden. Jetzt ist der 52-Jährige zurück in Deutschland, zum Durchchecken und Auskurieren. Issy Kul läuft also ohne Reiter mit. Und weil er nicht blöd ist, nimmt er lieber allein die Brücke, auch wenn er dafür noch mal hundert Meter zurücklaufen muss, während die anderen durch den Fluss reiten. Das ist in Ordnung. „Für uns sind die Pferde Partner und keine Gebrauchsgegenstände“, erklärt Peter van der Gugten. „Und ein Pferd gibt dir keinen Respekt, wenn du nicht bereit bist, das Pferd zu respektieren.“ Gebiss und Sperrriemen – die Zwangsinstrumente der klassischen Reitlehre – wird man am Zaumzeug dieser Wanderreiter nie finden.

Um halb zehn fahren van der Gugten und Sotiris zum Veterinäramt in Kilkis. Und dort kommt es nun zum Kampf um den Stempel, den die Reiter für die Einreise ins Nicht-EU-Land Mazedonien brauchen. Erbittert wird um Paragrafen gestritten, werden Pferdepässe dem Gegenüber aus der Hand genommen und wieder hingehalten. Irgendwann – das Ministerium hat angerufen, der begehrte Stempel ist aufgetaucht und ergebnislos wieder verschwunden – hält Peter van der Gugten im Eifer des Gefechts die Beamtin sacht am Ärmel ihrer Bluse fest. Sie legt ihre Hand auf seine, und in dieser kleinen Geste der Verbrüderung scheint die Ahnung eines guten Endes auf.

Peter van der Gugten, 1954 in Zürich geboren, hat – man glaubt es kaum – Verwaltungskaufmann gelernt. Es war nicht so ganz das Richtige für ihn, und deshalb gründete er ein paar Jahre später in München eine Firma für Wasser- und Brandschadensanierung. Aufs Pferd brachte ihn zuerst seine amerikanische Frau, und als die Kinder auszogen, gab er den Betrieb auf, um sich ganz aufs Wanderreiten zu verlegen. Van der Gugten ist der unermüdliche Antreiber der Gruppe. In der kanadischen Wildnis hat er einmal sein lahmendes Pferd drei Tage lang durch ein Flussbett geführt, um seinen Rückflug noch zu erreichen. Er watete von morgens bis abends. Als „extrem willensstark“ beschreibt ihn Ross Birrell: „Ein Nein ist für Peter keine Option.“ Um kurz vor zwölf drückt die Veterinärbeamtin den Stempel aufs Papier.

Die größten Hürden sind Veterinäre, Zöllner und Grenzbeamte

Nun bedeuten gültige Pässe noch nicht, dass über die Grenze auch geritten werden darf. Daher gibt es zwei Anhänger mit zwei schwarzen Documenta-SUVs. Den Fahrdienst übernehmen meist Mark und Sam. Die jungen Assistenten von Ross Birrell suchen tagsüber nach Wiesen und Heu. Manchmal bringen sie den Reitern Pizza. Vor allem dokumentieren sie den Ritt für ein späteres Videokunstwerk in Kassel. Jeden Morgen schüttelt Peter van der Gugten die beiden aus dem Dachzelt, das sie auf eines der Autos geschnallt haben.

Bis Idomeni fährt man eine Stunde. Vor einem Jahr gab es hier ein Camp mit über 15.000 Flüchtlingen. Nun ist an der Grenze davon nichts mehr zu sehen. Dafür demonstriert ein neuer Zaun mit Stacheldrahtkrone die Entschlossenheit, mit der die Republik Mazedonien die Migrationsroute versperrt. Obwohl die deutsche Botschaft in Skopje, aufgescheucht durch das Wort „Documenta“, voraustelefoniert hat, beginnt die befürchtete Odyssee: Vom Zoll geht es zum Spediteur und vom Spediteur zum Parkplatz für Lastkraftwagen. Dort sitzt in einem schmucklosen Büro ein Veterinär, der mit betroffenem Gesicht auf dem Bügel seiner Brille kaut. Er sagt: „You understand, I want to let you go.“ Doch leider gebe es ein Problem: Die EU-Pferdepässe gälten nicht für die Einreise, man benötige ein mazedonisches Formular. Warum der Veterinär nicht die Angaben von einen Papier ins andere überträgt, wird nicht ganz ersichtlich. Stattdessen greift er zum Telefonhörer in der Hoffnung, am Freitagnachmittag seinen Chef in Skopje zu erreichen.

Draußen auf dem Parkplatz führt Zsolt Szabo die Pferde spazieren. Mit Hermes am Zügel blickt er durch den Zaun nach Mazedonien. Der deutschstämmige Ungar hat seine Erfahrungen mit Grenzen. In den Achtzigern floh er mit gefälschtem Pass bis nach Stuttgart. Die hellblaue Intersport-Tasche mit dem rosa Klettverschluss, die er sich unterwegs in Wien kaufte, begleitet ihn bis heute. Im Moment enthält sie seine Ersatzwäsche. Szabo zog nach Freiburg, holte seine Frau und seine zwei Söhne aus Ungarn nach und baute eine Firma auf: ebenfalls Wasser- und Brandschadensanierung. Daher kennt er Peter van der Gugten. Seit zwei Jahrzehnten reiten sie zusammen. Mit 47 Jahren legte Szabo die Firma in die Hände seiner Söhne und ging nach Ungarn, um Pferde, Schafe und Hühner zu halten, Gemüse anzubauen, Brot zu backen, Käse zu machen. Die Aufgabenbereiche des heute 61-Jährigen im Team: Ausrüstung und Trail-Philosophie. „Was im Alltag wichtig ist, wird auf dem Ritt unwichtig – und umgekehrt“, sagt er. „Du lernst ein Streichholz zu schätzen.“

Fünf Stunden verrinnen, wenig passiert. Ein Laster mit Tiefkühlhühnern schnauft heran, der Fahrer holt sich im Büro seinen Stempel ab, verschwindet wieder. „Tote Pferde über diese Grenze zu bringen ist viel einfacher als lebendige“, sagt Peter van der Gugten. „Es sei denn, du fährst dein Sportpferd auf direktem Weg zu einem Wettbewerb. Willst du aber als Wanderreiter mit deinem Pferd in ein Nicht-EU-Land einreisen, gibt es kein geregeltes Prozedere.“ Wenig später verkündet der Tierarzt, dass sein Chef und er den Entschluss gefasst hätten, die Einreisepapiere auszustellen. Beim Ausfertigen beginnt allerdings der Drucker zu streiken. Und der Veterinär zitiert mit leisem Lächeln ein altes mazedonisches Sprichwort: „One problem is no problem. Two problems is one problem!“ Irgendwann hat die Technik ein Einsehen: Peter van der Gugten bekommt seine Papiere, stapft zu Fuß zum Zoll – und kehrt eine halbe Stunde später mit rotem Kopf zurück. Der Zöllner hat ihn angeschnauzt, weil er ihn so kurz vor Feierabend noch abfertigen musste. Laut schimpfend springt van der Gugten in den SUV, tritt aufs Gas, brettert auf der Gegenfahrbahn an einer Schlange wartender Sattelzüge vorbei und umkurvt den Schlagbaum des Parkplatzwächters. So bleibt das mobile Kunstwerk dem Staat Mazedonien die Parkgebühren schuldig.

 

Hinter der Grenze verengt sich die Ebene zu einem Tal, das der Fluss Vardar zwischen Bergrücken geschnitten hat. Die Dörfer wirken ärmer als in Griechenland. Etwa 5000 Euro pro Jahr verdienen die Mazedonier im Durchschnitt. Die Dämmerung bricht an, und es wird höchste Zeit, eine Weide für die Pferde zu finden. Im Dorf Balintsi steht ein Retter in Fußballtrikot und Schlappen an der Straße: Gregori, Anfang dreißig, freundliches Gesicht, deutet auf die Wiese neben seinem Elternhaus. Sie gehört seinem Cousin. Ein Zaun ist in Minuten gezogen. Van der Gugten lädt Gregori und den Cousin zum Essen ein, die beiden erzählen vom Leben in einem Land, das vom Rest Europas lange ignoriert wurde. Erst seit Kurzem dürfen die Mazedonier mit Touristenvisum nach Griechenland. Dass in Skopje am Vortag ein nationalistischer Mob das Parlament gestürmt hat, erfahren die Reiter an diesem Abend nicht. Es ist kein Thema. Stattdessen erfüllt sich bei Bier und Rakia, einem hochprozentigen Obstbrand, Gregoris Botschaft an die Welt dort draußen: „Macedonian people – not a lot of money, but big heart!“ Van der Gugten und er werden Facebook-Freunde.

20. Mai: Von Kamenica nach Rudnik in Serbien

Die Šumadija gehört zum Schönsten, was der Balkan zu bieten hat. Zwischen malerischen Bergkuppen liegen dichte Laubwälder und Täler mit Wiesen und Obstbäumen. Im Weiler Gornja Crnuća soll im Frühjahr 1815 der Widerstandskämpfer Miloš Obrenović die Flagge der Rebellen in die Luft gehalten und so den letztlich erfolgreichen Zweiten Serbischen Aufstand entfacht haben. Obrenović wollte seine Heimat von den Türken zurück. Man kann das verstehen, so herrlich, wie es hier ist.

Der Tag beginnt im Dörfchen Kamenica, knapp zwei Autostunden südlich von Belgrad. Nana und Igor Schönenberger Gajic haben hier seit drei Jahren einen Wanderreitbetrieb, Igor wird den „Transit of Hermes“ die nächsten Tage als Guide begleiten. Auch Wewetzer ist wieder da! Heute will er erstmals wieder auf Issy Kul sitzen, solange es sein Rücken mitmacht. Zudem ist Ross Birrell angereist, um die Reiter zu filmen, die er seit Athen nicht mehr gesehen hat. „Die Bärte sind länger geworden und die Pferde schlanker“, stellt er fest.

Fast sechs Wochen ist die Gruppe jetzt unterwegs, etwa die Hälfte der Strecke nach Kassel liegt noch vor ihnen. Die Dauerbelastung lässt sich am Körper der Pferde ablesen. „Die Muskulatur verändert sich“, erklärt Peter van der Gugten. „Ein Haflinger-Sprinter wie Paco muss bei uns zum Marathonläufer umtrainieren.“ Das Resultat ist: Die maßgeschneiderten Sättel sitzen nicht mehr richtig. Und so schrauben Szabo und Tina Boche an diesem Morgen an Pacos Sattel herum. Gelegenheit für die Frage: Sehen sich die Reiter eigentlich selbst als Kunstwerk? „Nein“, antwortet Szabo sofort, aber Tina Boche ist anderer Meinung: „Kunst ist oft eine Provokation, etwas, das dich zum Nachdenken bringt.“ Das könne auch etwas sein, das einfach passiert – wie dieser Ritt. Und dann erzählt Boche, dass sie die Urenkelin von Johannes Baader ist, dem Dadaisten und guten Freund des Künstlers Raoul Hausmann. Sie selbst malt und verkauft ab und zu ein Bild. „Jetzt bin ich als Augsburger Lokalkünstlerin Teil der Documenta“, sagt sie. „Das ist lustig, aber auch zweitrangig: Denn vor allem will ich reiten!“

In der Gruppe hält sich die 54-Jährige eher im Hintergrund, doch tatsächlich ist Tina Boche diejenige mit der längsten Reiterfahrung: Ihre Eltern hatten eine Ranch bei Buenos Aires, zum ersten Mal auf einem Pferd saß sie im Mutterleib. Mit Anfang dreißig kam sie nach Augsburg und arbeitete dort 15 Jahre lang in der Reitschule von Fred Rai, dem „singenden Cowboy“ aus der SWF-Hitparade und Verfechter des gewaltlosen Pferdeumgangs. In kurzen Shows führte sie vor, dass man auch ohne Zäumung und Sattel reiten kann. 2010 gründete sie ihre eigene Reitschule, und während sie jetzt unterwegs ist, muss ihre Tochter den Betrieb managen. Tina Boche ist die Einzige, die Peter van der Gugten vorher nicht kannte. Sie hat sich selbst für den Ritt gemeldet und musste zittern, weil es so aussah, als gebe es keinen Platz für sie. Doch alle sind froh, dass sie dabei ist. Nicht zuletzt, weil sie van der Gugtens schmerzendes Bein wieder fit bekommen hat – mit Globuli aus der Satteltaschenapotheke.

Um halb acht bürsten die Reiter den Pferden den Sand aus dem Fell, legen Decken und Sättel auf. Der Rücken von Sanchez bleibt frei. Er hat eine dicke, aufgescheuerte Blase kurz unterm Widerrist. „Da ist der Sattel nach vorn gerutscht, und Zsolt hat nicht aufgepasst“, sagt van der Gugten. „Jetzt muss er im Auto mitfahren.“ Die anderen starten pünktlich um acht. Sie reiten die sandige Dorfstraße von Kamenica entlang, vorbei an Holzzäunen und offenen Heuschobern, einen schmalen Feldweg hinab, den Brombeerranken und Akazien säumen, dann ein Stück die Landstraße entlang und über eine kleine Eisenbrücke, die einen wundervollen Rundumblick auf die Felder und Dörfer des Tales bietet, eine sanfte Hügelkuppe hinauf und wieder steil hinunter in ein Bachbett, das durchquert werden muss, bevor es zwischen Wiesen auf einem Berghang das erste Mal steil bergauf geht. Sandkörner und kleine Steinchen unter den Hufen sorgen für rhythmisches Geknirsche, während Augen und Gedanken umherschweifen. An den gesammelten Impressionen hätte Spaziergangswissenschaftler Lucius Burckhardt wohl seine helle Freude gehabt und sie im Kopf zum Heile-Welt-Bild integriert.

Nach zwei Stunden erreicht die Gruppe ein Wäldchen mit einem Picknickplatz. Hier dürfen die Pferde grasen. Da ihr Körper kontinuierlich Magensäure produziert, sollten ihre Bäuche immer gefüllt sein, sonst greift die Säure die Magenschleimhaut an, was zu Schmerz, Stress und schlimmstenfalls Geschwüren und Koliken führt. Plötzlich Unruhe in der Herde: Das Pferd von Guide Igor, der Neuling im Trupp, kommt den anderen zu nahe. Sanchez schlägt mit den Hinterläufen aus und versetzt ihm einen kräftigen Tritt. „Er verteidigt die Herde“, sagt Peter van der Gugten mit einem Lächeln. Der anschließende Hang wird zur Abwechslung mal im Galopp geritten. Nach weiteren zwei Stunden erreicht der „Transit of Hermes“ den kleinen Paradiesgarten von Bauer Miloš in Gornja­ Crnuća: Unter Kirschbäumen weiden Schafe, der Tisch ist mit Kaffee, Bier, Akazienhonig aus eigener Produktion und Spinatpastete gedeckt. Zum Nachtisch gibt es Lebkuchenherzen.

Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen unterwegs gehört zu den stärksten Eindrücken, die die Reiter mit nach Hause nehmen. Sie begegnen einem Europa, das viel intakter scheint, viel hoffnungsvoller stimmt als das Bild, das die Medien von diesem Kontinent vermitteln. „Das Problem ist allerdings, dass die Freiheit eingeschränkt wird“, sagt Peter van der Gugten. Man müsse nur die Flüchtlinge anschauen, die ständig gegen Stacheldrahtzäune anrennen. „Für mich ist das Interessante“, wirft Ross Birrell ein, „dass dieses Kunstwerk auf einen Anachronismus blickt – das Pferd – und trotzdem ständig an Aktualität gewinnt. Anfang April wurde die Documenta eröffnet, und eine Woche davor hat Theresa May den EU-Austritt Großbritanniens eingeleitet. Europa steht unter Spannung, und dieses Werk bildet das ab.“ Sollte man also im Umkehrschluss die Bewegung als Manifest für die Freizügigkeit verstehen? „Wir wollen eigentlich keinen politischen Ritt daraus machen“, sagt van der Gugten. „Aber man kann das absolut so sehen!“

Am frühen Nachmittag startet der Trupp den Anstieg zum Berg Rudnik und zum gleichnamigen Minendorf, dem Ziel der Tagesetappe. Und vielleicht liegt es am selbst gebrannten Obstschnaps von Bauer Miloš, dass die Reiter beim Aufbruch fast Hermes vergessen. Nach 20 Metern fällt ihnen auf, dass der Arravani noch angeleint vor der Scheune steht.

Bei Erscheinen dieses Artikels trabt der Götterbote schon durch Slowenien, bis nach Kassel sind die Reiter dann noch einen guten Monat unterwegs. Wird der „Transit of Hermes“ etwas bewirken? Vielleicht. Vielleicht ändert er das Bewusstsein vom Stellenwert des Pferdes in der Gesellschaft, vielleicht die Menschen, die die Reiter vorbeiziehen sehen. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig.­ Möglicherweise reicht einfach dieser eine Satz, den Tina Boche ruft, als sie eine Wiese hochgaloppiert, vorbei an Butterblumen, blauen Wicken und weißem Lein, anhält, sich umdreht und zu den Bergen am Horizont blickt. Sie ruft: „Das ist so schön, ich möchte sterben!“ Und Szabo sagt zu ihr: „Wart’s ab, morgen wird es noch viel schöner.“

Service

Dieser Beitrag erschien in

ZEITmagazin vom 8. Juni 2017 und WELTKUNST Nr.  131/2017

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