Ausstellungen

Das Ziel vor Augen

Im April ist die Documenta in Athen gestartet. Geschickt hält dort die Weltkunstschau die Waage zwischen Poesie und Politik. Was darf man beim zweiten Teil in Kassel erwarten?

Von Tim Ackermann
06.06.2017

Auf der Akropolis erklimmt das Quecksilber des Thermometers schon am Vormittag sommerliche Höhen, doch unten am Hang des benachbarten Philopapposhügels lässt es sich noch aushalten. In den Fünfzigerjahren errichtete der Architekt Dimitris Pikionis hier zwischen Olivenbäumen, Pinien und Zypressen einen zauberhaften Pavillon als leichtfüßige Holzkonstruktion auf einem Sockel aus Marmor. Der Blick zurück auf den Parthenon ist heute zugewachsen, dafür spendet die Vegetation gnädigen Schatten. Senioren plaudern auf den Bänken des Pavillons, Liebende turteln, Kinder toben durch die offenen Wände. Es riecht nach Kiefernnadeln und Rosmarin. In die Holzkonstruktion hat die Künstlerin Vivian Suter Leinwände gehängt, bemalt mit Materialien von der Vulkaninsel Nisyros. Ein Luftzug versetzt die Stoffbahnen in sanfte Bewegungen. 

Der erste Ausstellungsteil ist in fast 50 Schauplätze aufgesplittert

Wer Anfang April diesen Ort aufsuchte, der ahnte sogleich, dass diese Documenta keine unangenehme werden würde. „Von ­Athen lernen“ hatte Adam Szymczyk, künstlerischer Leiter der vierzehnten Ausgabe der „Weltkunstschau“, dem Publikum als Motto mitgegeben. Und wenn die griechische Metropole etwas lehrt, dann ist es zunächst einmal Demut vor dem Ausmaß des Unterfangens: Szymczyks Idee war ja nicht nur, neben Kassel auch Athen als Gastgeberstadt auszuwählen, die Documenta quasi zu verdoppeln. Er hat auch den ersten Ausstellungsteil auf fast 50 Schauplätze in der griechischen Hauptstadt aufgesplittert. Das sorgt beim Besucher für erlösende Überforderung: Unmöglich, das alles in zwei Tagen zu schaffen! Man bräuchte eine Woche.

Einen roten Faden lässt die Documenta vermissen. Eher durchwandert der Besucher Themenfelder: die Flüchtlingskrise, die Schuldenkrise, die Griechenland in die Nähe des Staatsbankrotts brachte, oder auch die Frage nach dem Umgang mit ethnischen Minoritäten in westlichen Gesellschaften. Und Athen erweist sich als dankbare Kulisse: ein jahrtausendealtes Kulturzentrum, das jedoch in der zeitgenössischen Kunstwelt erst den Weg von der Peripherie zurückfinden muss. Die Documenta übernimmt dabei jetzt die Rolle des drill sergeants.

Ohne Erfolgsdruck flaniert es sich leichter

Dass das Künstlerduo Prinz Gholam vor den Säulen des Zeus-Tempels bekannte Posen der Kunstgeschichte im Schnelldurchlauf nachturnt, riecht nach spirituellem Selbstoptimierungswahn, sorgt aber für eine frische Brise im Kopf. Bloß nie die Energie verlieren, denn diese Documenta ist im Aufbruch, in Bewegung, voller Dynamik. Besonders viele performative Kunstwerke werden aufgeführt, manche nur ein einziges Mal oder nur zu bestimmten Zeiten. Das Verpassen ist Teil des Erlebnisses, und ohne Erfolgsdruck flaniert es sich noch ein wenig leichter. 

Szymczyks fluides Documenta-Konzept passt zur allgegenwärtigen Thematik der Flüchtlinge, die ja auch ständig in Bewegung sein müssen. Dieses Gefühl nimmt der Künstler Hiwa K auf, der für sein Video „Pre-Image (Blind as the Mother Tongue)“ durch Griechenland spazierte. Er balancierte dabei eine Stange auf der Nase, an der Spiegel befestigt waren, mit deren Hilfe er navigieren konnte. Die Bilder sind mit der eigenen Fluchtgeschichte des irakischen Kurden vertont. Das Unterwegssein ist Leitmotiv der Documenta. Auch im Werk von Ross Birrell: Vier Wanderreiter hat der Künstler am 9. April auf einen Trail geschickt, der sie über sechs europäische Grenzen führen wird. Nach drei Monaten wollen sie in Kassel ankommen. Das ist zweifellos mehr als Symbolkunst. Eine „soziale Plastik“ – zu Pferde.

Die Documenta 14 ist schon deshalb die politischste Documenta der jüngeren Vergangenheit, weil sie immer wieder aus der Kunst heraustritt, um in der Realität wirksam zu werden: Die deutsche Künstlerin Maria Eichhorn hat in Athen ein Haus gekauft, das sie als „Nichteigentum“ der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen will (mehr dazu in der Juli-Ausgabe der WELTKUNST). Ähnlich handfest sind das Marmorzelt der First-Nation-Kanadierin Rebecca Belmore auf dem Philopapposhügel, das als temporärer Unterschlupf dienen könnte, und das Pro­jekt des pakistanisch-englischen Künstlers Rasheed­ Araeen: Auf dem zentral gelegenen Kotzia-Platz lässt er in einem Zeltpavillon während der Documenta-Laufzeit kostenlos Mittagessen an alle Menschen verteilen, die ein derartiges Angebot annehmen wollen oder müssen. Angenehmerweise serviert die Documenta 14 solchen Aktivismus nicht mit didaktischem Fingerzeig, sondern mit der Eleganz simpler Faktizität: Kunst kann etwas bewirken, wenn sie es wirklich will. 

Könnte die Documenta bei ihrer Ankunft in Kassel ihre Dynamik verlieren?

Und Kassel? Viele Informationen zum nordhessischen Ausstellungsteil hat sich Szymczyk im Vorfeld nicht entlocken lassen. Die Athener Ausstellung mit ihrer Kritik am innereuropäischen Machtgefälle ist allerdings schon implizit gen Deutschland ausgerichtet. In dieser Blickrichtung entfaltet sie ihre Sogwirkung. Als Leuchtfeuer fungiert am Horizont der Rauch, den der Künstler Daniel Knorr seit April aus dem Kasseler Fridericianum aufsteigen lässt. Drinnen wird Szymczyk die Sammlung des Athener Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst zeigen. So weit, so brav. Und so beginnt man zu fürchten, dass die Documenta mit der Ankunft in Kassel ihre Dynamik verlieren könnte. Wenn die Wanderreiter ihr Ziel erreichen, verschwindet ihre Symbolkraft. Für den Flüchtling beginnt am Ende seiner Reise der bürokratische Prozess des Wartens. Aus Veränderung wird Stillstand. Der Parthenon der verbotenen Bücher, den die Argentinierin Marta Minujín vor dem Fridericianum aufbaut, ist eher Archiv als Demonstration. Ein starres Konstrukt. Und die blutigen Rentierschädel, die die Sámi-Künstlerin Máret Ánne Sara in Norwegen als Protest aufhäufte, dürfen in Kassel nur blankgeputzt präsentiert werden. Der Hygienebestimmungen wegen. 

Es scheint in Kassel für die rund 160 ­Documenta-Künstler also sehr viel schwieriger, ihre Kritik wirklich zielgenau anzubringen. Maria Eichhorn gelingt das, weil sie erneut sehr präzise auf eine aktuelle gesellschaftliche Debatte reagiert. Diesmal berührt sie den Bereich der Kultur, denn Eichhorn hat in Kassel das Rose Valland Institut gegründet, das Restitutionsfälle aufarbeiten soll. Erfolg versprechen zudem künstlerische Strategien, die sich auf die Stärke des Hybriden besinnen: Die Berlinerin Nevin Aladağ, die Athen mit ihren Musikinstrument-­Möbeln bezaubert, zeigt in Kassel ein Fenster aus Keramik, das orientalische Muster adaptiert. Und der nigerianische Künstler Emeka
Ogboh bietet in der Ausstellung „Sufferhead“ ein dunkles Craft Beer, das er nach Geschmacksvorschlägen von in Kassel lebenden Afrikanern gebraut hat, an. So sprengt die ­Documenta das deutsche Reinheitsgebot.

Service

Abbildung ganz oben:

Marta Minujin, „Parthenon of Books“ während des Aufbaus vor dem Fridericianum, Kassel (Abb.: Marta Minujín, The Parthenon of Books, 2017, Friedrichsplatz Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke)

Dieser Beitrag erschien in

WELTKUNST Nr. 130/2017

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