Vor zwei Jahrhunderten verdrehte ein Dorf in den Sabiner Bergen bei Rom den deutschen Romantikern den Kopf. Wer sich heute auf die Suche begibt, entdeckt die Spuren der einstigen Künstlerkolonie und viele berühmte Blicke
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13.01.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 208
Olevano war nun so wichtig, dass Hummel sogar seinen alten Lehrer Friedrich Preller d. Ä. zu einer zweiten Italienreise überreden konnte. Dessen Skizzenbuch von 1860/61 ist „der seltene Glücksfall einer vollständig gebliebenen Olevano-Aneignung aus Künstlerhand“, so Florian Illies, der in den letzten zehn Jahren so viel für die Popularisierung der Ölstudien als auch für die Olevanos getan hat wie sonst keiner. Obgleich die Ölstudie damals ihren Siegeszug begann, war das traditionelle Skizzenbuch weiterhin dabei – und Prellers spätes Meisterwerk wird heute in der römischen Casa di Goethe verwahrt. Prellers Sohn machte die Reise ebenfalls mit und hielt um 1862 einen Höhepunkt der olevanesischen Künstlerkolonie fest: Er zeichnete seinen Vater und dessen Schüler Edmund Kanoldt sowie einen weiteren Maler, die mit ihren Sonnenschirmen nach Olevano ziehen, dahinter folgen Malkästen tragende Dorfburschen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte der Mythos eine Verwandlung durch: Anton von Werner besang in den späten 1860ern in der deutschen Heimat schon Olevano, bevor er es überhaupt sehen konnte. Golo Maurer hat diese Popularisierung auf der römischen Tagung im Sommer 2022 in einen witzigen Satz gebannt, der immer noch für einige Italienliebhaber und -forscher gilt: „Olevano ist sehr schön, nur war ich noch nie da!“
Als Anton von Werner tatsächlich 1868/1869 nach Olevano reiste, malte er die vielleicht besten Bilder seiner Karriere, lockere, elegante, freie Ölstudien – nur wenige Monate später marschierte er mit den deutschen Truppen gegen Frankreich und wurde von 1871 an zum biederen Apologeten des erstmals geeinten deutschen Kaiserreichs. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt schenkten die deutschen Künstler auch den Eichenwald der Serpentara an den Kaiser. Von nun an kränkelte der Mythos, weil das deutsche Gefühl, selbst die Italiensehnsucht, nach kurzem Aufschwung im Kaiserreich mit dem Hitler-Regime so sehr in den Abgrund fuhr, dass man von 1945 an fast nur noch darüber schimpfen mochte. Was kann die Lust auf italienische Landschaftsmythen ausrichten, wenn alles Deutsche hohl geworden ist? Schon Erich Kästner entzauberte Goethes popmusikhafte Gedichtzeile „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“ durch den Austausch eines einzigen Wortes. Bei Kästner werden die Zitronen zu Kanonen. Doch nicht nur der deutsche Terror, auch das industrielle Zeitalter formte die Welt gnadenlos um.
Mit den schmutzigen Wassern der Postindustrialisierung gewaschen, fühlt man sich mühelos in die selbst schon wieder in die Jahre gekommene Miesepetertradition ein, deren größter Vertreter Rolf Dieter Brinkmann war, 1972 Stipendiat der Villa Massimo, wohnhaft auch in der Casa Baldi in Olevano. Er wollte die Italiensehnsucht der Deutschen zertrümmern. Dolce far niente, das süße Nichtstun? „Am Arsch!“, lautete Brinkmanns Kommentar. Und Goethe? Da lachte Brinkmann nur: „Man müßte es wie Göthe machen, der Idiot: alles und jedes gut finden … jeden kleinen Katzenschiß bewundert der“. Dabei hätten die im weitesten Sinne romantischen Künstler, das müsse doch jeder sehen, eigentlich nur deutsche häusliche Enge in öde Landschaften projiziert. Nach Olevano zu gehen war für Brinkmann eigentlich nur eine Option, weil er gerne das Rauchen aufgeben und lernen wollte, früher zu Bett zu gehen, was in so einer „armseligen“ Umgebung doch ganz gut gelingen müsse. Die Aura der Berge interessierte ihn nicht, er fotografierte lieber den „Betontunnel voll Neonlicht“, den man durch den Berg gesprengt hatte, was den Autoverkehr im Kern von Olevano zumindest minimierte. Das Tunnelloch, gegenüber der Bar Belvedere, markiert bis heute den Sieg der Funktion über die Romantik, verkörpert einen neuen Mythos nicht des Schauens und Schwelgens, sondern der Machbarkeit. Ab den 1960er-Jahren verstärkte sich durch den Bau der Autobahn Rom–Salerno auch der Verkehr in Olevano, es stank und röhrte auf den Serpentinen, zudem mussten mit dieser Situation unerfahrene Dorfbewohner aufpassen, beim Gemüseputzen oder Kartenspielen am Straßenrand nicht angefahren zu werden – das beschreibt die Kunsthistorikerin Angela Windholz in einem ausführlichen Text über die Geschichte Olevanos von 2017.
Das Schöne an Mythen ist: Sie leben weiter, auch im Stillen und Kleinen. Während Brinkmann missmutig in Olevano hockte, freute er sich plötzlich doch: über den Blick in „unzersiedelte“ Landschaften, über die wohltuende Ruhe, die ihn schreiben ließ. Kein Lärm, nur der Wasserkessel zischte gemütlich hinter ihm in der Küche – wie er auch vor 200 Jahren ganz ähnlich gezischt haben mag. Bis heute gibt es solche Entschleunigungsmomente: Immer noch wird der Abfall in Olevano per Eselskarren durch die steilen Straßen weggeschafft, ein idyllischer Anachronismus.
Blickt man von den steilen Gassen zwischen Bar Belvedere und der Burgruine ins Saccotal, sind dort nicht nur liebliche Lichtstimmungen am Abend zu sehen, sondern auch das neue Amazon-Verteilerzentrum, wahrscheinlich flächenmäßig genauso groß wie Olevano und die anderen Orte der Umgebung. Der Schönheitsmythos, den alle Italienliebhaber bis heute pflegen, kann davon aber höchstens einen Dämpfer bekommen. Die Fotografien des Künstlers Adrian Sauer, der 2013 Stipendiat in der Casa Baldi war, beweisen dies.
Wenn man Olevano verlässt, im abendlichen Licht die gewundene Straße nach Rom nimmt und über die Schulter blickt, dann ist die mythenreiche Schönheit voll da: Die Aura der Landschaft blitzt auf, nicht völlig zerstört von Straßen und Häusern. Das hat auch der Maler Michael Mohr erfahren, der kurz vor Antritt seines Villa-Massimo-Stipendiums vor einigen Jahren noch überlegte, vielleicht gar keine Malsachen mitzunehmen. Was malen, wenn alles schon Bild geworden ist? Die Utensilien doch im Koffer, scheute er dann den überstrapazierten Blick ins Tal, malte aber trotzdem treffliche Gemälde, die den Mythos in die farbliche Abstraktion transportieren.
„Wären die Alpen doch Wolken geblieben“, dichtet Birgit Kreipe, ebenfalls Stipendiatin, in ihrem Lyrikband „Soma“ (2016). Wie würde dann eine Italienreise aussehen? Unendliche Möglichkeiten tun sich auf, mit poetischer Weitsicht kann man jeden Mythos spielend vergrößern.
Aber es geht auch genau anders herum, Schritt für Schritt, mit den Füßen auf dem Boden. Wer es bei diesem oder beim letzten Mal noch nicht gemacht hat, der muss sich für den nächsten Besuch vornehmen, feste Schuhe und eine Wanderkarte mitzunehmen: Denn die Reise zum Olevano-Mythos geht durch Kunstwerke, vor allem aber geht sie durch die Landschaft. Und die kann man nur zu Fuß erfahren, ziemlich genau so wie die Künstler früher auch. Wer das getrocknete Gras nicht riecht, sich nicht das Schienbein an einem Felsen schürft, keine Olivenbäume anfasst und nicht in der Abenddämmerung über eine grillenzirpende Wiese läuft, wer nicht wenigsten einmal 4000 Schritte sich entfernt vom nächsten Haus, vom nächsten Kühlschrank oder einer Handylademöglichkeit, dem ist auf dieser Erde nicht mehr zu helfen – Letzteres hat sinngemäß der Dichter Heinrich von Kleist über sich selbst gesagt. Verständlich, der Ärmste ist ja auch nie in Italien gewesen!