In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 3: der Fotograf Peter Hujar und seine Ästhetik der Verletzlichkeit
ShareIch schaute mir die Fotos jeden Tag an, beim Aufstehen, beim Arbeiten am Schreibtisch, beim Schlafengehen. Ich verbrachte so viel Zeit mit ihnen, dass ich bald das Gefühl hatte, die darauf porträtierten Männer auf intime Weise zu kennen. Nach und nach glaubte ich auch Peter Hujar so gut zu verstehen, als wäre er ein persönlicher Freund von mir. Vielleicht weil ich genauso arm war wie er, vielleicht weil ich entgegen aller Wahrscheinlichkeit versuchte, ein ähnliches Leben zu leben führen. Vielleicht auch, weil die Gegend, in die ich gezogen war, noch ein wenig seiner Welt glich. Das East Village, in dem Hujar gelebt hatte, war einem Bezirk luxuriöser Townhouses gewichen. Doch wenn ich mich in dem Viertel umschaute, in dem ich jetzt lebte, konnte ich die Spuren jenes New Yorks noch erkennen, die guten wie die schlechten Spuren. Vielleicht konnte ich mich mit ihm identifizieren, weil ich so intensiv wie noch nie zuvor den Traumatisierungen meines eigenen Lebens nachspürte. Vielleicht, weil auch ich mein Leben mit dieser unglaublichen Konsequenz führen wollte, mit der Hujar seines geführt hatte – eine selten gewordene, heute fast unglaubwürdig wirkende Konsequenz, mit der er gegen die Welt ankämpfte, die ihn und seine Freundinnen und Freunde ausgrenzte, doch dieser Welt zugleich so viel schenkte. Eine Konsequenz, die ich nicht imstande war aufzubringen, nicht zuletzt, weil ich spürte, dass sie fast immer mit einer eigenen Form des Unglücks einhergeht. Und die ich in gewisser Hinsicht auch gar nicht mehr aufbringen musste, weil ein Großteil der nötigen Arbeit von Menschen wie Hujar schon getan worden war.
Bis heute kenne ich niemanden, der oder die das, was die Gesellschaft als anders oder abweichend definiert, besser auf Papier bannte als Hujar. Keiner der Fotografinnen und Fotografen, mit denen er häufig verglichen wird, konnte das so gut wie er. Während Diane Arbus das Andere zu einer Zirkusattraktion machte, Richard Avedon es in hohepriesterinnenhaften modischen Glamour tauchte und Robert Mapplethorpe es sexuell auflud und fetischisierte, begegnete Hujar ihm mit großer, völlig natürlicher Schamfreiheit. Seine Bilder sind weder konfrontativ noch voyeuristisch. Weder machen sie ihre Modelle zu Objekten, noch lassen sie sich von den Betrachtenden selbst zu Objekten machen. Es ist unmöglich, Hujars Arbeiten ohne ein Gefühl grundsätzlicher menschlicher Anteilnahme anzuschauen, ohne eine zwischenmenschliche Kommunikation zu erfahren, die nur bei seinen Fotos entsteht.
Menschen, die von Hujar fotografiert wurden, berichten, dass seine Fotosessions oft Stunden dauerten. Manchmal saßen oder standen sie in seinem Atelier, manchmal bat er sie, sich in sein Bett zu legen. Er redete kaum mit ihnen, beobachtete sie dafür umso genauer und schien immer auf den einen, besonderen Moment zu warten. Was sich dabei ergab, war so etwas wie eine zwischenmenschliche Trance. Man sieht den dabei entstandenen Fotoarbeiten bis heute an, dass Hujar den von ihm porträtierten Menschen den Freiraum gab, ihre sozialen Rollen und Erwartungshaltungen abzulegen, zu vergessen, wie ein Großteil der Welt sie sah und genauso zu sein, wie sie tief im Inneren waren. Die Intimität, die dabei entstand, scheint sich auf die Betrachtenden der Fotografie förmlich zu übertragen. Wenn man in die Augen von Hujars Modellen blickt, scheint man nicht nur die Erlaubnis zu bekommen, diese Menschen so zu sehen, wie sie sind, sondern hat auch das Gefühl, von ihnen selbst so gesehen zu werden. Es ist, als enthielten diese Fotografien eine implizite Handlungsanweisung, als gäben sie den Betrachtenden die Aufgabe, ihre Schamgefühle angesichts von Menschen, die sich verletzlich zeigen, zu überwinden – und zugleich ihre eigene Verletzlichkeit zu akzeptieren. Hujars Arbeiten anzuschauen hat häufig etwas geradezu Magisches. Auf eine grundsätzliche Weise fühlt man sich von ihnen verstanden.
Ich lebte ein gutes Jahr mit Hujars Fotos. Irgendwann nahm ich sie von der Wand, deponierte sie zwischen zwei festen Pappdeckeln und packte sie in einen der Koffer, mit denen ich zurück nach Berlin zog. Ich wollte nicht nach Berlin zurück, doch das ist eine andere Geschichte. Eine der Arbeiten, eine nackte Yoga-Pose von Gary Schneider, hängt noch heute in meiner Wohnung. Immer wenn ich sie anschaue, muss ich an jene Jahre denken, an jenen Abschnitt meines Lebens, der mich mehr prägte, als ich es damals für möglich hielt. Und ich habe immer noch den Eindruck, so viel von Peter Hujar zu lernen – über mich selbst, über das Leben und unsere Körper, mit denen wir dieses Leben führen, darüber, was Verletzlichkeit bedeutet und wie schön die Narben sein können, die uns das Leben allen zufügt. Bei all der Nacktheit in seinen Bildern, bei all den jungen und alten, dünnen, weichen und muskulösen Körpern schien es Hujar nie um das Äußere der Körper zu gehen, die er mit seiner Kamera einfing, sondern immer nur darum, wie es ist, in ihnen zu leben, sie zu bewohnen, mit ihnen der Welt zu begegnen – trotz aller Beschädigungen, die man mit sich herumträgt. Schönheit schien für ihn vor allem darin zu liegen, sich trotz aller Traumatisierungen des Lebens zu trauen, man selbst zu sein. Sich seiner Verletzlichkeit zu stellen und das Leben trotz aller Widerstände auszukosten. Bis heute kenne ich keine treffendere, keine bessere Auffassung von Schönheit.
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