Olympia 2024

Spaziergang durch Saint-Denis

In Saint-Denis wurde einst die gotische Architektur erfunden, doch das Klischee der Pariser Vorstadt handelt von Armut und Drogen. Dabei ist vieles im Umbruch. Heute genießen abseits des olympischen Dorfes Kreative die Freiräume für innovative Ideen

Von J. Emil Sennewald
06.08.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 229

Auf die andere Seite der tosenden Autobahn A1 führt eine Fußgängerbrücke zum Stade de France, wo Leichtathletik und Rugby-Wettkämpfe stattfinden werden. Die Marathonläufer kommen an der Kathedrale von Saint-Denis vorbei und können die Westfassade dieses Gründungsbaus der Gotik bewundern, der in der Sonne strahlt. Der Kirchenbau ist von außergewöhnlicher Bedeutung, steht seit 1996 auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes.

Eine monumentale Installation von Stephen Dean wird das Kirchenschiff verzaubern

Trotz eines Besucherstroms von über 300.000 Menschen pro Jahr ist die als Konkurrentin zu Notre-Dame de Paris gehandelte Kathedrale in keinem guten Zustand. Es fehlt an Geld für Instandhaltung, Heizung, Elektrizität. Seit 2018 laufen die Arbeiten zur Rekonstruktion der Spitze des 90 Meter hohen Nordturms. Touristischer Anziehungspunkt ist die Kathedrale vor allem wegen ihrer einzigartigen Fenster, entstanden im frühen 12. Jahrhundert auf Grundlage der Visionen des Abts Suger. Querstrebenarchitektur ermöglichte filigran durchbrochene Mauern, mithin mehr Fläche für kostbare bunte Kirchenfenster, mit denen Suger ein aus Licht gestaltetes himmlisches Jerusalem auf Erden errichten wollte. Bis 29. September wird das Kirchenschiff von einer monumentalen Installation des Künstlers Stephen Dean verzaubert. Er stellte eine raumhohe „Licht-Leiter“ auf, die mit eigenen transparenten Farbfeldern zum Echo und Multiplikator der Reflexe der Fenster wird. Bis zum Ende der französischen Monarchie 1789 wurde Saint-Denis nicht nur als Krönungs- sondern auch als Grablegungskirche genutzt. Bis heute pilgern die noch immer in erstaunlicher Zahl anzutreffenden französischen Royalisten in die Krypta, um den mumifizierten Herzen von Marie-Antoinette oder ihres glücklosen Gemahls Ludwig XVI. die Ehre zu erweisen.

Wir setzen unseren Rundgang fort in Richtung des Musée d’art et d’histoire Paul-Eluard. In der Rue de la Legion d’Honneur machen wir kurz Station im O’Grand Breton, einem hübsch eingerichteten französischen Restaurant mit Terrasse, das auch vegetarische Gerichte anbietet, um uns zu stärken. Nach dem Essen erreichen wir in wenigen Minuten das Museum, das dem in Saint-Denis geborenen, berühmten surrealistischen Lyriker gewidmet ist. Das weitläufige 1625 bis 1628 errichtete Gebäude beherbergte lange ein Karmeliterkloster, in dem Louise, die Lieblingstochter des französischen Königs Ludwig XV. bis zu ihrem Tod im Jahr 1787 als Ordensschwester und spätere Äbtissin lebte. In sehr gut erhaltener Barockarchitektur zeigt das Haus eine Sammlung mit den Schwerpunkten französische Kunst und Geschichte. Eine kleine Abteilung präsentiert Paul Eluards Leben und Werk mit Manuskripten, Fotos und Zeichnungen. Ebenfalls Teil der Kulturolympiade, versammelt hier bis 25. November die Ausstellung „Die Mechanik der Anstrengung. Der Körper unter dem Eindruck des Sports“ künstlerische, historische und wissenschaftliche Beiträge zum Thema, etwa Fotos von René-Jacques, genannt René Giton, aus den 1920er-Jahren, der Zeit der letzten Olympiade in Paris.

Dörflichen Charme versprüht das Restaurant O'Grand Breton
Dörflichen Charme versprüht das Restaurant O'Grand Breton. © O'Grand Breton

Wir könnten jetzt weiter in der Studentenstadt Saint-Denis herumwandern, uns vor der Gedenkstele auf dem Platz des 8. Mai 1945 erinnern, dass hier, in der durch Ludwig XV. errichteten Schweizer Kaserne vor und während der deutschen Besatzung Ausländer interniert, später Juden deportiert wurden. Wir könnten die von einem Psychoanalytiker und einem Philosophen betriebene Galerie HCE (Here Comes Everybody) entdecken oder bis an den Rand der Stadt laufen und dort Le 6b besuchen, ein in einem Wohnhochhaus eingerichtetes Kulturzentrum, das von Kunstschaffenden betrieben wird. Doch wir steigen stattdessen am Stade de France in den Bus 170 in Richtung Porte des Lilas. Vor dem Busfenster, anfangs entlang der Seine, später durch Aubervilliers, zieht die wechselnde Landschaft zwischen Geschichte, Industrie und Sozialwohnungsbau vorbei. Eine Dreiviertelstunde später steigen wir am Rathaus von Pantin aus. Putzig sieht es aus, in seinem Zuckerbäckerstil, kontrastreich umgeben von Sozialwohnungskästen, Lagerhäusern, Bahndepots, Ausfallstraßen.

Zwischen Industriegebiet und Luxusgeschäften versteckt sich die stilvolle Galerie Thaddaeus Ropac

Eine wichtige Pariser Galerie würde man hier kaum vermuten. Einige Gehminuten entlang der mehrspurigen Straße, unter der Périphérique hindurch, stehen wir vor einem Tor, das den Blick in einen großzügigen Innenhof freigibt. Der Galerist Thaddaeus Ropac aus Salzburg zog hier schon 2012 mit seiner Filiale in einer ehemaligen Kupferfabrik ein. Die auf 5000 Quadratmetern verteilten Räume haben Museumsformat, neben zwei Sälen gibt es ein Café mit Terrasse zum Innenhof. Hier kann man sich stilvoll erfrischen. Bis 23. Juli zeigt die Galerie das Druckwerk des amerikanischen Malers Alex Katz, danach ist Sommerpause. Ropac hat seinen Standort mit Bedacht gewählt: Die Galerie liegt in nächster Nähe zu den Ateliers der französischen Luxuslabels Hermès und Chanel und zum Canal de l’Ourcq, der ein Viertel durchquert, das sich durch massive Gentrifizierung in den letzten fünf Jahren den Ruf erworben hat, das Brooklyn von Paris zu sein. Am Kanal schlendern wir am Quai de l’Aisne entlang. Mit knurrendem Magen können wir auf der Terrasse des Café-Restaurants Chez Agnès – Au bord de l’eau Platz nehmen. Das im Berliner Bastelstil eingerichtete Etablissement füllt mit Pizza und Burgern den Bauch, das Beobachten des bunten Treibens längs des Kanals die Augen.

Die Galerie Thaddaeus Ropac bietet Kunst in alten Industriehallen
Die Galerie Thaddaeus Ropac bietet Kunst in alten Industriehallen. © Martin Argyroglo

Danach könnten wir noch einen Zwischenstopp in der Église Saint-Germain de Pantin machen. Weniger wegen des Kirchengebäudes, sondern um den Teppich zu bewundern, den der 1980 verstorbene russische Maler Léon Zack für diesen Ort angefertigt hat. Vielleicht spazieren wir aber auch einfach weiter stadtauswärts am Quai de l’Aisne entlang, bis wir uns nach rechts in Richtung der Fondation Fiminco wenden, die wir in 30 Fußminuten vom Restaurant aus erreichen. Das von Kunst geprägte Areal der Stiftung die zum gleichnamigen Immobilienpromoter gehört, beherbergt neben den eigenen Räumen auch die Lager der regionalen Kunstsammlung der Île-de-France (Les Réserves, Frac Île-de-France), einige der wichtigen Pariser Galerien, wie In Situ – Fabienne Leclerc, Air de Paris oder die jüngere 22,48 m², Buchproduzenten wie die Laurel Parker Book Gallery und einen Campus der Schule für Kunst und Design Parsons Paris.

Ausstellungsansicht in der Fondation Fiminco
Ausstellungsansicht in der Fondation Fiminco. © James Rosenquist / VG Bild-Kunst, Bonn 2024; Foto: Charles Duprat

Die Fusion von Immobilienpromotion und zeitgenössischer Kunst ließ im Osten von Paris einen beachtlichen Kulturcluster entstehen, dem nun langsam auch ein ganzes Neubauviertel zuwächst. Innerhalb der nächsten Jahre will das Areal zu einem der wichtigsten Orte für zeitgenössische Kunst in Europa werden. Auch wenn viele Sammler noch den Weg in die Vorstadt selbst mit dem Taxi scheuen dürften, profitabel ist das Unternehmen für alle: Fiminco gewinnt an der von Kunstplayern angekurbelten Gentrifizierung, Galerien und Institution von den in Paris „intra muros“ inzwischen unbezahlbaren großen Ausstellungs- und Lagerflächen. In jedem Fall steht Komunuma, wie sich der Galeriencluster nennt, für die neue Dynamik und das Start-up-Fieber des Pariser Kunstvertriebs. Von so viel Szene durstig geworden, können wir auf dem Areal im Coutume Café einen Aperitif nehmen, bevor wir den Rückweg hinter den Boulevard périphérique antreten.

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