Benjamin Kunath

„Jeder hat Ideen zum Nahverkehr”

Der Künstler Benjamin Kunath arbeitet als Zugführer im Nah- und Fernverkehr und reflektiert das in seinen Zeichnungen. Wir sprachen mit ihm über seine Faszination für die Schiene, Skizzen als Mindmaps, die Federung von Fahrersitzen und AfD-Plakate zum Drüberfahren

Von Catherine Peter
28.02.2024

Wie wurden Sie Straßenbahnfahrer?

Ein Grundinteresse an Zügen und Straßenbahnen war immer da, aber ich wollte zeichnen und Kunst machen. Ab 2008 habe ich Kunst an der HGB in Leipzig studiert, ziemlich lange und irgendwann lief das BAföG aus. Damals hat die LVB (Leipziger Verkehrsbetriebe) Studentische Teilzeitkräfte gesucht, und ich habe mich beworben. 

Ihre Kunst und ihre Arbeit sind heute eng miteinander verbunden. Wie kam es denn zu dieser Entwicklung?

Am Anfang war das Straßenbahnfahren nur ein Job, der mir immer Spaß gemacht hat. Aber irgendwann sitzt man doch bei der Arbeit und denkt, jetzt würde ich eigentlich lieber zeichnen oder im Atelier sitzen. Da hatte ich die Idee, das Straßenbahnfahren in die Zeichnungen aufzunehmen. Das war ein kleiner Glücksgriff. Dadurch hatte man während der Arbeitszeit nicht das Gefühl, okay, ich mache jetzt hier einen Job und später im Atelier mache ich Kunst, sondern ist auch während des Straßenbahnfahrens Künstler, weil man die ganze Zeit Inhalte für Zeichnungen generiert und sich Notizen dafür macht. Es hat sich sehr gut ergänzt.

Haben Sie auch schon davor solche Mindmap-mäßigen Zeichnungen gemacht?

Ja, aber mit anderen Themen. Da ging es meistens um Orte, die für mich wichtig waren. Ästhetisch mit Feder und Tusche haben sie immer gut funktioniert, aber inhaltlich haben sie bei dem Betrachtenden nicht sonderlich viel ausgelöst. Mit dem Straßenbahnthema war es dann ganz anders, weil jeder Ideen und Geschichten zum Nahverkehr hat.

Zeichnung Dienstplan von Benjamin Kunath
„Dienstplan", 2018 © Moritz Zeller / Benjamin Kunath

Wie kann man sich das vorstellen mit den Notizen?

Bevor man eine Straßenbahn aus dem Depot fährt, müssen die Entwerter getestet werden. Dazu gab es Teststreifen, darauf habe ich die Notizen gemacht. Meistens an den Haltestellen oder an den Endstellen, natürlich nicht während der Fahrt. Da hatte ich irgendwann einen ganzen Stapel Themen, die ich runterzeichnen konnte. 

Und wie entstehen diese Themen?

Das ist ganz unterschiedlich. Alles, was mir auffällt. Es kann eine Unterhaltung sein oder ein Vogel. Es ist wertfrei. Es gibt Zeichnungen über die Federung vom Fahrersitz – wie man ihn bequem einstellt –, über Großveranstaltungen und Konzerte. Es gibt auch politische Zeichnungen, zum Beispiel gab es zu Wahlzeiten in Leipzig mal einen Orkan, da ist man dauernd über die weggefegten Wahlplakate drübergefahren. Es gibt Zeichnungen, wo ich mit Genugtuung über AfD-Plakate fahre. Es gibt aber auch total unpolitische Arbeiten über eine Tomate im Gleis. Alles, was ich irgendwie spannend finde, kann da reinkommen.

Benjamin Kunath in der Nähe von seinem Atelier in Oberschöneweide, Berlin
Benjamin Kunath in der Nähe von seinem Atelier in Oberschöneweide, Berlin © Catherine Peter

Wie sehr hat der Beruf Ihr Stadtbild verändert?

Was ich immer besonders schön fand, ist, dass es eine versteckte und beobachtende Rolle ist. Man wird nicht so recht wahrgenommen, aber man ist Teil vom Stadtleben und fließt mit. Dabei kann man sich in Ruhe Gedanken machen, ohne weiter aufzufallen. Was besonders super mit der Straßenbahn war, ist, dass man in der ganzen Stadt zu verschiedenen Zeiten unterwegs war. Ich bin auch oft spät gefahren oder nachts. Irgendwann kennt man die Strecken in und auswendig und fängt an ins Detail zu gehen. Da fallen einem im laufe der Jahre Kleinigkeiten immer mehr auf. Es hat meinen Blick auf die Stadt auf jeden Fall geschärft.

„Pilze", 2021 © Moritz Zeller / Benjamin Kunath

Wussten Ihre Kollegen von den Zeichnungen?

Es wussten immer ein paar davon, ja. Mein Gruppenleiter bei der Straßenbahn hat sich auch meine letzte Ausstellung in Leipzig angeschaut. Ich wollte aber nie als „der Künstler” gelten. Da muss man sich auch nicht so erklären. 

Wie erfolgte dann der Weg von der Leipziger Straßenbahn zur Berliner U-Bahn?

Sechs Jahre bin ich in Leipzig Straßenbahn gefahren. Als ich aus privaten Gründen nach Berlin gezogen bin, wollte ich etwas Neues probieren. In Leipzig gibt es ja gar keine U-Bahn, und ich hatte das Gefühl, mit der Straßenbahn abgeschlossen zu haben. Also dachte ich „Neue Stadt, neues Verkehrsmittel“, das hat auch eine neue Ebene in die Zeichnungen gebracht.

Wie hat sich das neue Verkehrsmittel denn angefühlt?

Was es mit einem macht, habe ich auf jeden Fall unterschätzt. Es ist ein harter Arbeitsalltag. Jeden Tag sieht man viel Elend. Drei Jahre war ich U-Bahn-Fahrer, ich bin die Linien des „Kleinprofil“ U1 bis U4 gefahren. Das sind die Linien, die viel draußen fahren. Diese Tunnelsache, die am Anfang auch extrem aufregend war, wurde dadurch, dass da auch wirklich nichts passiert, irgendwann sehr monoton. Dann hatte ich keine Lust mehr, ich wollte nicht abstumpfen.

Wie hat sich das auf Ihre Zeichnungen ausgewirkt?

Ich habe jetzt keine Junkies gezählt. Es ist zwar Teil des Alltags, aber ich wollte nicht, dass es so extrem in die Zeichnungen fließt. Einmal wurde ich angegriffen, davon gibt es eine Zeichnung. Monotonie spielt auf jeden Fall eine größere Rolle. Ich bin 80 Prozent U3 gefahren, also eine Linie, die sehr schön ist, Krumme Lanke, Kreuzberg… Aber den ganzen Tag hin und her. Da gehst du halt extrem ins Detail mit dem Blick, weil da kennst du irgendwann nicht nur jeden Baum, sondern jedes Blatt. Da habe ich mich zum Beispiel mit Pilzen entlang der Stecke beschäftigt.

„Wagen-Nr. Blatt 7". 2021 © Moritz Zeller / Benjamin Kunath

Wie regelmäßig kamen Sie zum Zeichnen?

Das Fenster zum Zeichnen war anfänglich tatsächlich recht klein. Die Ausbildung, die ein halbes Jahr ging, war Vollzeit, in der Probezeit musste ich auch Vollzeit arbeiten und erst dann konnte ich mit den Stunden runtergehen. Das Zeichnen ging eher so eine Stunde nach der Arbeit oder nachmittags, wenn ich eine Frühschicht hatte. Das war dann der Lohn für das frühe Aufstehen.

Könnte man die Zeichnungen auch als eine Art Tagebuch bezeichnen? Wie ist denn Ihr Produktionsrhythmus?

Sehr unterschiedlich. Ich arbeite in Serien, die sich mit unterschiedlichen Sachen beschäftigen. Es gibt die Mindmap Zeichnungen, die sich auf Beobachtungen und Gedankenspiele während der Fahrt berufen. Manchmal spielt die Datierung eine Rolle. Meistens gibt es Anfangsgedanken. Das mag ich daran, manchmal kann das banalste Thema die beste Zeichnung werden. Es ist auch interessant, über die Jahre zu sehen, was für Gedanken man beim Fahren hatte. Und dann habe ich mich auch viel mit Fahrplänen beschäftigt und Fahrpläne abgezeichnet nach einem eigenen grafischen Konzept. Das war auch die Meisterschülerarbeit, von den 238 Haltestellen in Leipzig. Diese Zeichnungen sind sehr dicht und viel kleinteiliger. Dann gibt es Auflistungen der Wagennummern und Linien, die ich gefahren bin. Bei dieser Serie habe ich immer versucht, wie beim Tagebuch, nach jeder Schicht das Blatt weiter zu zeichnen und so eine fortlaufende Liste zu führen.

Das stelle ich mir fast meditativ vor, da vorne alleine zu sitzen.

Ja, außer es ist was, hast du deine Ruhe und bist alleine mit deinen Gedanken. Beim Fahren kann ich ziemlich gut nachdenken. Du reagierst auf Signale, aber du hast Platz, kreativ zu sein. Das reine Fahren macht man dann automatisch. 

Der Künstler Benjamin Kunath in den Tunneln der Berliner U-Bahn. © Benjamin Kunath
Der Künstler Benjamin Kunath in den Tunneln der Berliner U-Bahn. © Benjamin Kunath

Und jetzt machen Sie gerade eine Ausbildung bei der Deutschen Bahn.

Ja, zum Triebfahrzeugführer im Fernverkehr, mit der Hoffnung, dass ich das viele Jahre machen kann. Es hat im Oktober angefangen. Es war für mich relativ schnell klar, dass das mit der U-Bahn spannend ist, aber nicht für einen langen Zeitraum. Was jetzt beginnt, ist für mich wie die Königsdisziplin. Die größten Züge, die größten Strecken, die größten Geschwindigkeiten. Es ist eine schwierige Ausbildung, es gibt sehr viel zu lernen. Das ist eine eigene Welt für sich, noch mal viel komplexer. Bis jetzt macht es sehr viel Spaß. 

Das wird sicherlich auch ein neues Kapitel für die Zeichnungen.

Ja, ich bin unheimlich gespannt, was es mit den Zeichnungen machen wird. Bei der U-Bahn ging es darum, eine neue Facette in die Zeichnungen zu bringen, die es bei der Straßenbahn nicht gab. Und darum geht es jetzt auf jeden Fall auch. Wahrscheinlich wird der Mensch eine kleinere Rolle spielen, und es wird mehr um die Landschaften gehen.

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