In ihren iPad-Zeichnungen hält Anjelica Roselyn besondere Augenblicke der Fashion-Welt fest. So übersetzt die preisgekrönte Londonerin die klassische Illustration ins digitale Zeitalter
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27.02.2024
Der Umriss ist linienhaft skizziert. Gianni Versace entwarf das violette, ärmellose Kleidungsstück im Jahr 1996 – eine bedeutende Zeit für die Modewelt. Naomi Campbell, Linda Evangelista, Claudia Schiffer, Christy Turlington und Cindy Crawford prägten die Ära der Supermodels. Diese fünf Frauen hatten alles. Ganz ähnlich scheint es der Dame in Anjelica Roselyns Illustration „Abundance“ (zu Deutsch „Überfluss“) von 2021 zu gehen. Dem gedeckten Tisch, einer Fülle an Orangen, gedrehten Kerzen, Teeservice und Kuchen, schenkt sie kaum Beachtung.
Anjelica Roselyn hat schon immer gerne gezeichnet. „Ich erinnere mich, dass ich gleichzeitig schreiben und zeichnen lernte“, erzählt sie. Die Illustratorin wurde in Washington, USA, geboren. Aufgewachsen ist sie in London. Ihr Studium am renommierten London College of Fashion schloss sie mit einem Bachelor in Bekleidungstechnologie für Damenmode ab. Während dieser Zeit absolvierte sie Praktika bei den Modehäusern Marc Jacobs und Ryan Lo.
Anstelle die Karriere als Modedesignerin zu verfolgen, entschied sie sich für ihre digitalen Zeichnungen, die sie mit einem iPad anfertigt. „Die Kombination aus unterschiedlichen Zeichnungstechniken mit den Pinseln von Photoshop hat es mir ermöglicht, meine Zeichnungen auf die nächste Ebene zu bringen“, so Roselyn. Sie illustriert ausschließlich frei Hand. „Auf diese Weise kann ich meine eigenen, einzigartigen Formen, Gesichter und Linien kreieren.“
Die Pose ist das Fundament der Modeinszenierung. Sie bestimmt, wie das Kleidungsstück am Körper fällt und bringt die Silhouette des Designs zur Geltung. Für Anjelica Roselyn spielt die Körperhaltung ihrer gezeichneten Figuren ebenfalls eine Rolle. „Als ich mit dem Illustrieren begann, orientierte ich mich an dynamischen Posen – wie Gehen, Laufen oder eine Laufsteg-Pose. Jetzt möchte ich mehr Abwechslung in meine Zeichnungen bringen“, sagt sie. In letzter Zeit tendiere sie zu statischen Posen, wie Liegen oder Sitzen. „Das hängt in der Regel von der Kleidung oder Kollektion ab, auf die ich mich konzentriere, und von da an ist der weitere Zeichenprozess sehr instinktiv.“
Ein wiederkehrendes Motiv in ihren Arbeiten ist das Geschehen während der Fashion Week. Der Zeitraum, in dem Modehäuser ihre neuesten Kreationen vor einem ausgewählten Publikum präsentieren. Als sich die US-amerikanische Schauspielerin und „Dune“-Darstellerin Zendaya bei der Haute Couture Show Ende Januar 2024 in einer surrealistischen Sci-Fi-Robe von Schiaparelli präsentierte, fing die Modezeichnerin den Augenblick in einer Illustration ein.
„Ich liebe kräftige Farben, Bewegung und Posen, die an die Modestrecken erinnern, die ich als Kind bewundert habe“, so Roselyn. „Meine Inspiration für eine Zeichnung kann unterschiedlich sein. Manchmal ist es die Pose des Models, die Umgebung oder das Farbschema.“ Am Wichtigsten sei jedoch das Kleidungsstück selbst und die Art, wie es getragen wird. „Vor allem, wenn das Design asymmetrisch, farbenfroh und gewagt ist“, sagt sie. „Diese Stilelemente machen das Zeichnen noch spannender.“
Seit der Jahrhundertwende setzen Illustratoren immer häufiger auf die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters. Computerprogramme finden sich heute gleichberechtigt neben den klassischen Zeichentechniken. Dazu kommt Social Media. „Heute haben wir das Glück, dass Illustrationen nicht nur in den Print-Publikationen zu finden sind, sondern dass Websites und soziale Medien Modeillustratoren eine Plattform bieten, auf der sie ihre eigenen Arbeiten selbst kuratieren können“, kommentiert Roselyn.
In den 1920er-Jahren fertigten Künstler wie René Gruau und George Barbier die ersten Zeichnungen für Publikationen wie Vogue und Harper’s Bazaar an. Dann kam die Modefotografie. Was mit Irving Penn, Richard Avedon, Guy Bourdin und Steven Meisel begann, wurde von Ellen von Unwerth, Harley Weir, Juergen Teller und zahlreichen weiteren Fotografen fortgeführt. Die Kunstform der Zeichnung blieb dennoch. Eben weil ihr heute eine eigene Funktion zugeschrieben wird: Statt der naturalistisch genauen Wiedergabe eines Motivs, kann sie die Stimmung eines Designs hervorrufen.
Im Gegensatz zur Fotografie haben Illustratoren die Freiheit, ihre Schwerpunkte individuell zu setzen und dadurch eine einzigartige Perspektive zu schaffen. „Wir können selbst entscheiden, worauf wir uns in einer Zeichnung konzentrieren wollen“, sagt Anjelica Roselyn. „Bei Modethemen haben wir die Wahl, auf welche Aspekte wir den Fokus legen möchten, sei es Accessoires, Make-up, Silhouetten oder andere Details.“ Wenn ein Illustrator eine Kollektion darstellt, wird jedes Ergebnis vollkommen anders aussehen. „Das ist etwas ganz Besonderes.“