Mandalas

Alles ist erleuchtet

Sämtliche Religionen nutzen geometrische Formen für die Darstellung metaphysischer Erfahrungen. Mit seinem Buch „Mandala“ nimmt uns der Asien-Kenner Peter van Ham mit auf eine Reise durch die sakralen Symbole der Weltkulturen

Von Lisa Zeitz
12.12.2023
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 221

Peter van Ham ist es wichtig, zu zeigen, dass Kulturen mit klaren Unterschieden zu denselben Formen kommen. Im Kapitel über die Radform stellt er zum Beispiel drei Objekte nebeneinander: Auf einem ornamental geschnitzten Holzständer prangt eine rund zweitausend Jahre alte sogenannte Bi-Scheibe aus gravierter Jade der chinesischen Han-Dynastie, die als Wegweiser zum Jenseits geschaffen wurde. Daneben steht eine barocke Silbermonstranz aus dem 18. Jahrhundert, die eine Hostie mit Kreuzprägung in einem Strahlenkranz umfasst. Als drittes wird ein „Rad der Lehre“ präsentiert: ein Objekt aus Silber mit Türkisen und Korallen. Die acht inneren Speichen stehen für den buddhistischen achtfachen Pfad, der äußere Wolkenkranz symbolisiert die sich anbahnende Erleuchtung. Verschiedene Jahrtausende, verschiedene Religionen, doch die Kulturen kommen mit ähnlichen Stilmitteln auf dieselben Formen, um das Verschmelzen des Menschen mit Gott zu beschwören.

Padmasambhava im Zustand des Regenboseite
Padmasambhava im Zustand des Regenboseite: Auf ein Dreieck konzentriert, zeigt das tibetische Mandala den gativer Eigenschaften © courtesy Arnoldsche Art Publishers

Das Buch vereint die erstaunlichsten Objekte, von Buntstiftzeichnungen des Schweizer Outsider-Künstlers Adolf Wölfli über hexagonale Kacheln aus Iznik und Damaskus, römische Mosaiken, Buchmalereien des französischen Mittelalters und afghanische Textilien bis zu Bauwerken verschiedener Jahrtausende, goldene Kuppeln von Moscheen, Fensterrosen gotischer Kathedralen, südamerikanische Runddörfer, Reliquienschreine, bronzezeitliche Steinkreise und hinduistische Tempel. Wer einmal den Blick für die geometrischen Grundformen in unserer Kulturgeschichte geschärft hat, wird wahrscheinlich von jetzt an die Artefakte, ja sogar Rituale mit einem erweiterten Instrumentarium betrachten. Ist nicht sogar die stressreduzierende Atemtechnik der Navy Seals, das sogenannte Box Breathing, eine Form der Meditation im Quadrat? „Die Welt ist ein Mandala“ heißt das letzte Kapitel, in dem „gelebte geometrische Rituale“, Tänze und Prozessionen aus aller Welt zum Vergleich einladen. Die Derwische des Sufi-Ordens nutzen das Schwindelgefühl ihrer Tänze, um ekstatische Erfahrungen zu erleben.

Vladimir Nabokov
Die Spirale bezeichnete Vladimir Nabokov als spiritualisierten, befreiten Kreis. Ein anonymer Schweizer Künstler schrieb 1654 spiralförmig einen apokryphen alttestamentarischen Text mit Tinte auf Pergament: „Alle Weißheit ist bey Gott dem Herrn“ © Trinity College, Dublin (CCA)

Eine undatierte Zeichnung von Paulino Barasana aus dem kolumbianischen Vaupès-Distrikt zeigt eine Vision, die er nach der Einnahme des halluzinogen wirkenden Ayahuasca-Tees hatte. Zwischen zwei Figuren steht im Zentrum ein Dreieck, ein „Riss im Universum, durch den der Geist kommt“. Ein Dreieck findet sich auch auf dem tibetischen Mandala, das eine buddhistische Architektur aus verschiedenen geometrischen Formen darstellt. Symbolisch stehen sie für Eigenschaftspaare. Negative Aspekte wie Ungeduld oder Zorn beinhalten auch deren Gegenteile wie Gelassenheit oder Sanftmut und können damit überwunden werden. „Dies sind Psychogramme im besten Sinne“, sagt Peter van Ham, es gehe darum, mit den Eigenschaften umzugehen, alle Aspekte zu vereinigen und dadurch ein besserer Mensch und irgendwann vielleicht einmal ein Erleuchteter zu werden. Wenn tibetische Mönche in geistiger Versenkung bunte Sandmandalas auf den Boden streuen, erzeugen sie Hilfsmittel, um jenes höhere Bewusstsein zu kultivieren, mittels dessen die menschlichen Grundübel Gier, Hass und Verblendung durch Mitgefühl, Weisheit und allumfassende Liebe überwunden werden können.

Bruce Naumans Neonspirale mit der Botschaft „The True Artist Helps the World by Revealing Mystic Truths“ aus dem Jahr 1967 kombiniert das universelle Symbol der Spirale mit einer Ästhetik, die für Aufmerksamkeit heischenden Kommerz steht. Das billige industrielle Material auf der einen Seite steht einer (vielleicht ironischen) spirituellen Aussage gegenüber – ein meditatives Objekt des 20. Jahrhunderts. Zum Schluss des Telefonats zitiert der Autor eine Zen-Weisheit: „Vor der Erleuchtung Holz hacken und Wasser holen. Nach der Erleuchtung Holz hacken und Wasser holen.“ So ist es, sagt er, das Leben geht weiter.

Service

Buch

Peter van Ham, Barbara Hächler (Hrsg.)

Mandala – Auf der Suche nach Erleuchtung“,

Arnoldsche Art Publishers, 2022,

392 Seiten, 58 Euro

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