Bild des Tages

Sturz in eine Parallelwelt

Yehudit Sasportas zählt zu den bekanntesten israelischen Künstlerinnen der Gegenwart. Wie sehr ihr Leben von der Entführung und Ermordung ihres Bruders, dem ersten Opfer der ersten Intifada, erschüttert wurde, erfahren wir in einem neuen, reich bebilderten Buch der Journalistin und Kuratorin Gesine Borcherdt, das nun auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt wird

Von Yehudit Sasportas
19.10.2023

Das Buch „Dream on Baby“ von Gesine Borcherdt vertieft sich in die Kindheiten von 33 Kunstschaffenden wie Marina Abramovic und Jeff Koons, deckt ihre erstaunlichen Traumata und Energiequellen auf. Yahudit Sasportas‘ Erinnerungen, die hier selbst zu Wort kommt, sind besonders ergreifend:

„Als ich 19 war, wurde mein nur zehn Monate älterer Bruder Abraham, genannt Avi, von einer Terrororganisation entführt. Es geschah nur drei Wochen, bevor er seinen Dienst in einer Eliteeinheit der Armee beenden sollte. Avi war 81 Tage lang vermisst, bevor man ihn tot auffand. Ich hatte gerade begonnen, Kunst zu studieren, aber mein Leben änderte sich von einem Tag auf den anderen komplett. Ich fühlte mich, als wäre ich schlagartig in einen anderen Raum geworfen worden, eine Parallelwelt, in der meine Kompassnadel herausgerissen worden war und mich ein Schwindelgefühl aus der Bahn warf. Der feste Boden meines Lebens bekam einen gewaltigen Riss.

Ein paar Tage, bevor es passierte, hatte mich mein Bruder an der Universität besucht. Es gibt dieses Sprichwort, dass, bevor jemand geht, die Seele es weiß. Mein Bruder kam aus heiterem Himmel, was sehr untypisch war, denn wenn man in der Armee dient, kann man nicht einfach von jetzt auf gleich weg. Es war ein wunderschöner Tag und wir führten ein außergewöhnliches Gespräch über das Leben. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Drei Tage später, am 16. Februar 1989, war er auf dem Weg, unsere Eltern zu besuchen – aber er kam nie an. Wie sich später herausstellte, war er zusammen mit zwei anderen Soldaten getrampt. Sie hatten in einer Art Losverfahren bestimmt, wer als erstes mitfahren durfte, und er hatte verloren – also nahm er das zweite Auto, nachdem die anderen in das erste gestiegen waren. Es war Schicksal. Die Kampfeinheit begann noch in derselben Nacht, nach ihm zu suchen, und sie begriffen schnell, was geschehen war. Es kam sofort in allen Nachrichten. Mein Bruder war der erste Soldat, der während der ersten Intifada entführt wurde.

Diese Tage waren geprägt von einer extremen Medienberichterstattung. Die Möglichkeit, das von der Privatsphäre zu trennen – diese unsichtbare, aber wesentliche und grundlegende Trennung zwischen Individuum und Kollektiv –, war weggeschmolzen. Da es um einen Soldaten ging, gab es ein riesiges öffentliches Interesse. Das war eine große Herausforderung: Wir waren einerseits innerlich völlig erschüttert, während wir gleichzeitig wegen der politischen Dimension des Falles ständig unter Beobachtung von außen standen. Die Unmöglichkeit, dem Blick der Öffentlichkeit zu entgehen, war eine der heftigsten Erfahrungen für mich.

Yehudit Sasportas Israel
Yehudit Sasportas, „SHICHECHA no. 30“, 2013. © Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin

Man lernt in einer solchen Situation eine Menge über Kontrolle und Kontrollverlust, aber auch über das Kollektiv und das Individuum – und die Beziehung zwischen ihnen. Wenn ein Einzelner in einer schwierigen Angelegenheit die Hilfe der Gruppe benötigt, ändern sich die Regeln, und der Respekt vor der Privatsphäre geht verloren. Eine solche Erfahrung öffnet die Pforten zu bislang unbekannten Sphären, auf die dich niemand vorbereitet hat.

Ich hatte das Gefühl, dass die Medien mit einem Schwall von leerem Gerede über die Ermordung meines Bruders überschwemmt wurden, das alles dominierte. In der Rückschau führte das dazu, dass ich eine erhöhte Sensibilität entwickelte und seitdem Bildhauerei als ein Medium empfinde, das zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen unterscheidet – unterscheidet zwischen dem Sprechen über etwas von außen, also dem Verstand, und dem Erleben von innen, also dem Körper. Kunst ermöglicht den Zugang zu Dingen, die wir alle fühlen, aber nicht verbalisieren können, und vermittelt diese durch die wortlose Sprache des Kunstwerks.

Was mich nun antrieb, war das Interesse am Erschaffen und Formen dieser Sprache, die tatsächlich Energie erzeugt. Ich wollte nicht länger über Erfahrungen sprechen, sondern diese durchleben, egal wie schmerzhaft und unüberwindbar sie schienen – ich wollte durch sie hindurch und nicht bloß nebenhergehen.

Diese Erkenntnis war für mich neu und ungewohnt. Ich brauchte Jahre, um diese Leerstellen in der Zeit zu verstehen, das Gefühl, wie der Fluss des Lebens abrupt unterbrochen wird. Später entwickelte ich ein starkes Interesse an der Anatomie von Abwesenheit, am Zusammenbruch der Sprache, an den fehlenden Seiten im Buch unseres Lebens, an unterbewussten Informationen, die wir wahrnehmen, auch wenn wir sie nicht sehen. Erst nach Jahren habe ich wirklich verstanden, wie stark mich diese Erlebnisse geprägt haben. Es ist vielleicht vergleichbar mit dem Lesen eines Buches, bei dem man plötzlich merkt, dass einige Seiten fehlen. Man liest weiter, hat aber das seltsame Gefühl, dass man einen Teil übersprungen hat. Ich begann, in meiner Kunst diese zeitlichen Leerstellen, diese fehlenden Buchseiten, diesen Abgrund zu erforschen. Das Phänomen der fehlenden Seiten und die merkwürdigen Sprünge in der Linearität der Zeit wurden zu Kernthemen meines Schreibens und künstlerischen Schaffens.“

Übrigens: Dieser Auszug aus den Kindheitserinnerungen von Yahudit Sasportas erschien in Gesine Borcherdts neuem Buch „Dream on Baby. Wieviel Kindheit steckt in Kunst?“, herausgegeben vom Institut für moderne Kunst, Nürnberg, Starfruit Publications. Es kostet 32 Euro.

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