Kunst in London

Urbanes Mobiliar

Skulpturen im öffentlichen Raum findet man in London viele. Nicht alle sind von hoher Qualität, aber es gibt auch wahre Meisterwerke. Wir sind offenen Auges durch die Stadt gelaufen und haben viel Sehenswertes entdeckt

Von Dirk Bennett
08.08.2023
/ Erschienen in Kunst und Auktionen 12/23

Die Laufkundschaft, die emsig die Oxford Street hinunterläuft – die Augen auf die schrillen Auslagen oder das Smartphone in der Hand gerichtet –, nimmt sie wahrscheinlich schon gar nicht mehr wahr: die beschwingte Aluminiumplastik „Winged Figure“ von Barbara Hepworth, die seit den Sechzigerjahren die Fassade des Edelkaufhauses John Lewis ziert. Wohl ebenso wenig Aufmerksamkeit findet die biomorphe, sublim-taktile Marmorskulptur von Peter Randall-Pages vor dem Foyer der BUPA-Versicherungsanstalt in Bloomsbury. Oder das Ensemble der Windrush-Plastiken – Puddingapfel (Annonaceae), Brotfrucht (Moraceae) und Sauerampferfrucht (Annonaceae) – von Veronica Ryan mitten in Hackney. Die Sinne geschärft, die Augen einmal geöffnet, wird man sie jedoch überall entdecken: Plastiken, Skulpturen, Reliefs und andere dreidimensionale Arrangements. In Maresfield Gardens nahe Sigmund Freuds Haus, am Time-Life-Haus in New Bond Street, an der U-Bahnstation von St. James’s Park. Auch an Dean’s Mews, wo Jacob Epsteins „Madonna and Child“ über dem Eingang hängt; oder am BBC-Gebäude, das mit Eric-Gill-Reliefs geschmückt ist (unlängst in den Nachrichten, weil dem 1940 verstorbenen Künstler sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden).

Kunst im öffentlichen Raum gehört in London quasi zum urbanen Mobiliar, zum Gesamtbild der Stadt. Auffallen würde sie einem wahrscheinlich erst dann wieder, wenn sie plötzlich weg wäre. Wenn einem also etwas abginge – vermutlich aber ohne sagen zu können, was. Das hängt mit unseren (nachlässigen) Sehgewohnheiten, mit selektiver Wahrnehmung und den pausenlosen Ablenkungen des modernen Lebens zusammen – das berühmte Gorillaexperiment lässt grüßen. Dabei lohnt es sich durchaus, einmal offenen Auges durch die Straßen zu schreiten und den Blick zu heben – statt ihn nach unten, nach innen oder auf den „Jabscreen“ zu richten. Also die Umgebung wahrzunehmen, zu verinnerlichen, zu genießen. Natürlich gilt auch für Kunst im öffentlichen Raum das Froschkönigprinzip. Heißt: Man muss viele Kröten küssen, bis ein Prinz darunter ist. Denn auf jede gute Arbeit von Gill, Epstein, Moore, Skeaping oder Hepworth kommen Hunderte miese – nun ja, fast. Etwa von Niki de Saint Phalle, Jeff Koons … Was trotzdem bleibt, ist die Erkenntnis, dass die öffentliche Plastik in Großbritannien – gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – recht bemerkenswert ist. Und dass sie im Kanon der Moderne vielleicht sogar ein wenig vernachlässigt wird.

Henry Moore
Henry Moores Bronze „Two Piece Reclining Figure No. 5‘‘ (1963 / 64) kann im Park von Kenwood House bestaunt werden. © Wikimedia Commons

Angefangen hat alles zweifellos mit dem „Gottvater“ Henry Moore. Um seinen Werken zu begegnen, kann man beispielsweise an Gospel Oak Station in Nordlondon starten – am Fuß der Hügel von Hampstead und Highgate (Gemeinden, die irgendwie nie ganz ihren historischen Charakter als Dörfer vor den Toren der Hauptstadt verloren haben). Verlässt man den kleinen Bahnhof, spaziert vorbei am Art-déco-Freibad in das Parkland und steigt – vorbei an Tümpeln, Teichen und russischen Millionärsvillen – hügelan in Richtung Kenwood House, fühlt man sich bald fern der Metropole. Man glaubt, man sei irgendwo in der englischen Countryside. Und wenn man sich vor Kenwood House dann wieder stadtwärts wendet, eröffnet sich – Kontrastprogramm! – das ganze futuristische Panorama der City. Mit der Gherkin, dem Walky Talky, dem Cheesegrater, dem Shard – und wie die Hochhäuser alle heißen. Hochgezogen aus Beton und Glas im Verlauf der letzten zwanzig Jahre – und doch schon Zeugen einer irgendwie optimistischeren, einfältigeren Vergangenheit.

Ein wenig weiter noch – vorbei an einer Hepworth-Plastik zwischen Rhododendronbüschen – liegt zwischen uralten Laubbäumen am Hang ein weiterer Aussichtspunkt. Dort findet man Moores monumentale Bronze „Two piece reclining figure No. 5“ – geradezu instagramwürdig inszeniert. Das zweiteilige Arrangement ist ungewöhnlich, jedoch exemplarisch für die Originalität und sinnliche Qualität von Moores Arbeiten. Die Platzierung des Werks ist überaus passend, denn der Künstler lebte ja nicht weit von hier in der Parkhill Road, wo er kurz nach seiner Heirat mit Irina Radetsky im Juni 1929 ein Studio bezogen hatte – inmitten jener Künsterkolonie, die Hampstead in den Zwischenkriegsjahren repräsentierte. Den irrwitzigen Zeitläuften geschuldet, entstand hier geradezu ein kultureller Melting Pot – der Geburtsort der britischen Moderne. Ben Nicholson, Winifred Nicholson, Wells Coates, Paul Nash, Eileen Agar, Alexander Calder trafen hier auf Ernö Goldfinger und Walter Gropius, auf Naum Gabo und Piet Mondrian. Man hätte Mäuschen spielen wollen – etwa auf einer jener legendären Partys im Isokon Building.

Der beste Ort, Moore kennenzulernen, bleibt aber immer noch Perry Green bei Much Hadham in Hertfordshire – anderthalb Autostunden nördlich von London. Allein der Name dieses Weilers! Man könnte meinen, er sei einem Roman von Anthony Powell, Agatha Christie oder Enid Blyton entsprungen. Moore ließ sich dort nach Kriegsausbruch nieder. Und hier entstanden viele seiner vom Surrealismus und traditioneller Kunst aus Afrika und Südamerika inspirierten Plastiken. Indigene Arbeiten begeisterten damals nicht nur Moore, sondern die Generation überhaupt. Man begegnete den Artefakten mit Neugier und Wertschätzung, erschloss sich mit ihrer Hilfe nie dagewesene Ausdrucksformen. Kulturelle Appropriation war damals noch kein Thema …

Barbara Hepworth Dudley Shaw Ashton Figures in a Landscape
Barbara Hepworth in Dudley Shaw Ashtons Film „Figures in a Landscape“ aus dem Jahr 1953. © Courtesy of the BFI National Archive

Barbara Hepworth machte es ähnlich wie Moore: Sie zog sich 1939 nach St. Ives in Cornwall zurück – wie viele weitere Künstler während des Zweiten Weltkriegs, darunter Naum Gabo. Um ihr bemerkenswertes Schaffen kennenzulernen, empfiehlt sich aber insbesondere Wakefield, West Yorkshire. Hier – am Geburtsort der Künstlerin – ist eine bemerkenswerte Sammlung von Objekten aus ihrem Nachlass zu sehen.

Ein aufregender ästhetisch-intellektueller Mix des 17., 19. und 20. Jahrhunderts ist eine Bronze im Vorhof der British Library in London. Gemeint ist Eduardo Paolozzis gigantischer „Newton“, der nach einem kolorierten Druck von William Blake entstand – Englische Aufklärung und naturwissenschaftliche Revolution treffen hier auf Mystizismus und romantische Schwärmerei, auf Pop-Art und Moderne. Paolozzi gehört wie Anthony Caro, Lynn Chadwick und Elizabeth Frink zu jener Nachfolgegeneration von Moore und Hepworth, die ab der Mitte des 20. Jahrhunderts mit neuen Ausdrucksformen kokettierte, die semiabstrakt, humorvoll, genreübergreifend und spielerisch Konzepte, Techniken und Materialien austestete. Paolozzis Arbeiten sind in London allgegenwärtig: Da gibt es etwa den U-Bahn-Ventilationsschaft in Pimlico oder seinen „Kopf der Erfindung“ vor dem Design Museum. Und nicht zu vergessen: seine farbenfrohen Mosaiken aus der alten Tottenham-Court-Station, die in den neuen, nach jahrelanger Bauzeit nun endlich in Betrieb genommenen Bahnhof integriert wurden.

In der zeitgenössischen Plastik verwischen sich zunehmend die Grenzen zu anderen Disziplinen. Mal spielt die Wissenschaft hinein, mal die Mystik. Wem das zu verkopft klingt, der sehe sich einmal die Schöpfungen von David Nash, Peter Randall-Page, Rachel Whiteread, Emily Young, Anish Kapoor oder dem Künstlereremiten Steve Dillworth von der Isle of Skye an. Ihre Werke sind häufig – und im besten Sinne – rätselhaft, herausfordernd. Sie leben von ihrer Spannung aus handwerklicher, ästhetischer und narrativer Brillanz. Ein Paradebeispiel dafür – theatralisch, spektakulär und zugleich ein Klassiker der zeitgenössischen Plastik – ist Cornelia Parkers „Cold Dark Matter“. Dieses minutiöse Standbild einer explodierenden Scheune – endlos interpretiert – ist heute mehr denn je Sinnbild einer sich scheinbar (?) auflösenden Gegenwart.

Lynn Chadwick Engalnd
Auf dem Broad Walk in Harlow steht Lynn Chadwicks Bronze „Trigon“ von 1961. © Wikimedia Commons

Eine Besonderheit im Bereich der öffentlichen Plastik sind Arbeiten, die sich aus den natürlichen Materialien ihrer Umgebung speisen. Etwa von Andy Goldsworthy und Richard Long, die ihrerseits inspiriert sind von amerikanischen Kollegen wie James Turrell, Robert Smithson und Michael Heizer. Busreisende Richtung Stansted Airport sollten kurz vor der Ausfahrt 6 auf der M 11 (Theydon Bois) einmal kurz aus dem Fenster schauen: Zu sehen ist dort nämlich linker Hand ein Hang mit – leider unvollendeten – spiralförmigen Strukturen, die über die Jahre mehr und mehr mit der Landschaft verwachsen sind: die Arbeit „Earthworks“ von Richard Harris. Solche Werke reichen als Kunstform bis in die Siebzigerjahre zurück, haben aber erst in den letzten zwei Jahrzehnten verstärkt Eingang ins allgemeine Bewusstsein gefunden.

Skulpturenparks liegen derzeit voll im Trend – etwa der Yorkshire Sculpture Park, der Forest of Dean Sculpture Trail, Sheepfolds, Anthony Gormleys „Another Place“ oder auch Lough MacNean Sculpture Trail. Mittlerweile verarbeiten selbst Organisationen wie English Heritage, der National Trust oder Historic Scotland in ihren Präsentationen historischer Stätten gezielt skulpturale Elemente – beispielsweise in Hove Park, Tintagel, Newhailes House, Belsay, Scarborough Castle oder Witley Court. Die Faszination solcher Orte liegt im Wechselspiel aus Kunst, Natur, Geografie und Geologie – im sich stetig wandelnden Erlebnis, abhängig von der Tages- und Jahreszeit, von Wetter und Licht.

Last, but not least ist Harlow – eine typische Kleinstadt auf halbem Weg zwischen London und Stansted – ein Hotspot für Kunst im öffentlichen Raum. Das Zentrum ist recht lieblos zusammengeschustert – nicht untypisch für diese Region. Das heißt: brauner Klinker und Beton, Einkaufszeilen mit Billigläden, viele davon – Zeichen der Zeit – verbarrikadiert, bis auf Weiteres geschlossen, pleitegegangen. Sozialer Wohnungsbau aus der Nachkriegszeit, „Council Estates“, in die Jahre gekommen und schäbig geworden. Durchzogen wird das Ganze von einem kleinen Fluss, dem Stort, an dessen Ufer man dann ganz unverhofft auf plastische Arbeiten stößt – auch auf überraschende Arrangements, etwa einen Brunnen mit einer fantastischen Fratze. Daneben finden sich Grünanlagen und alte Häuser – historische Überbleibsel, die Harlow dann doch wieder ein Stück weit erträglich machen.

Zur Startseite