Meisterwerke der französischen Moderne, die heute in Museen diesseits und jenseits des Atlantiks verstreut sind, begleiteten die abenteuerliche Lebensgeschichte der Baronin Marianne von Goldschmidt-Rothschild
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11.08.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 216
Angesichts der heraufziehenden Pogrome durch die Nazis kann man nicht umhin, in dieser Kritik an neureichem Luxus auch antisemitische Ressentiments zu vermuten, wie sie Anna-Carolin Augustin zufolge weit verbreitet waren, gerade auch gegenüber jüdischen Sammlerinnen. Welche vier Meisterwerke Harry Graf Kessler am Pariser Platz sah, lässt sich nicht eindeutig identifizieren. Sicher ist nur, dass es sich um van Goghs „Arlesierin“ gehandelt haben muss und vermutlich Monets Stillleben „Teeservice“ von 1872, das heute im Dallas Museum of Art in Texas hängt. Marianne besaß drei Bilder von Manet und vier von Cézanne, herausragend darunter Manets „Stierkampf“ (heute im Musée d’Orsay) und Cézannes „Blaues Stillleben mit Zitrone“ (Cincinnati Art Museum). Mit Toulouse-Lautrecs „Kuss“ und Gauguins Südseeidyll „Mau Taporo“, heute beide in Privatsammlungen, kamen zwei weitere Glanzlichter hinzu, die zum sinnlichen Temperament der Sammlerin passten.
Nicht nur als Sammlerin, auch als Ehefrau zeigte sich Marianne als unabhängige, selbstbewusste und mitunter kapriziöse Persönlichkeit. 1920 heiratete sie den verwitweten Diplomaten und Industriellen Richard von Kühlmann, der als Staatssekretär im Ersten Weltkrieg den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mitverhandelt hatte. Kurz nach der Geburt ihrer Tochter Nina ließ sie sich wieder scheiden, um 1923 den Maler und Sammler Rudolf von Goldschmidt-Rothschild aus der ebenfalls sehr vermögenden Frankfurter Bankiersfamilie zu ehelichen. Mit ihm bekam sie einen Sohn, Gilbert. Von ihrem Berliner Wohnsitz am Pariser Platz und der Villa Rothschild im Taunus verlagerte sich Mariannes Lebensmittelpunkt mehr und mehr nach Frankreich, wo sie ein Pariser Stadtpalais in der Rue de la Faisanderie und ein Landhaus in Le Pradet bei Toulon erwarb. Wie in Berlin wusste die mondäne Gastgeberin sich auch in Paris in Szene zu setzen, wie erneut Harry Graf Kessler bezeugt. Am 1. Juni 1926 schrieb er: „Nachmittags Baby Goldschmidt Rotschild besucht. Sie empfing im Bett, rosa Damast-Bettzeug, hellblauer Pyjama, chinesisches Bett mit gelbem Atlas bezogen. Aufmachung wie in der Bettszene eines Ehebruchsdramas.“
Derweil bahnte sich in Deutschland ein ganz anderes Drama an. Von ihrem Balkon am Pariser Platz mit Blick auf das Brandenburger Tor hatte Marianne schon 1914 die patriotischen Schlachtrufe und 1918 die revolutionären Parolen gehört. Nun waren es die Fackelzüge mit Hakenkreuzfahnen, die nach Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 an ihr vorbeizogen. Mit den rasch zunehmenden Repressalien verließen immer mehr deutsche Juden und Hitler-Gegner ihre Heimat in Richtung Frankreich. In Sanary-sur-Mer, unweit von Mariannes Landsitz, entstand ein Zentrum der deutschen Emigration, wo sie Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger und René Schickele traf. Dem Maler Eugen Spiro bot sie Unterkunft in ihren Häusern in Paris und Südfrankreich, wo einige seiner Gemälde entstanden. Sie selbst dachte zunächst an England und empfing Winston Churchill in ihrem südfranzösischen Domizil, doch er setzte sich vergeblich für ihre Einbürgerung ein. Stattdessen erlangte Marianne für sich und ihre Kinder mithilfe des französischen Botschafters in Deutschland die französische Staatsbürgerschaft.
Nachdem sie sich auch von ihrem dritten Ehemann getrennt hatte, emigrierte Marianne 1938 mit ihren beiden Kindern endgültig nach Frankreich. Dafür musste sie eine erhebliche Reichsfluchtsteuer entrichten und große Teile ihres Vermögens zurücklassen, darunter die Immobilien am Pariser Platz samt musealem Hausrat sowie ihr Inselgrundstück auf Schwanenwerder, das wenig später Albert Speer günstig erwarb. Ihre Kunstwerke hatte sie rechtzeitig außer Landes nach Paris gebracht. Da es ihr aber nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht mehr gelang, die Gemälde auf offiziellem Weg weiter nach Amerika zu verschiffen, unternahm sie im Mai 1940 ein ungeheuerliches Wagnis: Sie nahm die Leinwände von den Keilrahmen, um sie in einer Rolle verpackt selbst im Auto über Spanien bis nach Portugal zu bringen. Bei einem Zwischenhalt kurz vor der spanischen Grenze musste sie die Werke zunächst zurücklassen, um mit ihren beiden Kindern sicher nach Lissabon zu gelangen. Nach zwei Monaten quälenden Wartens auf die Ausreisepapiere wurden endlich auch die Kunstwerke per Zug nachgeschickt und ein stabiler Transportzylinder beschafft, sodass die abenteuerliche Flucht schließlich mit der „SS Quanza“, einem der letzten Passagierfrachtschiffe, weiter Richtung Nordamerika ging.
Als die Freiheitsstatue in Sicht kam, durften jedoch nur 196 Passagiere aussteigen, den verbleibenden 121 Passagieren wurde die Einreise verweigert, darunter fast allen jüdischen Flüchtlingen. Von New York ging die Odyssee des Schiffs weiter nach Mexiko, wo Marianne und ihre beiden Kinder samt Bilderrolle als drei von nur 35 Flüchtlingen in Veracruz an Land gelassen wurden, während 86 Passiere an Bord bleiben mussten. Angekommen im Transitland zwischen altem und neuem Leben öffnete sie den Transportzylinder und entrollte die zuoberst liegende „Arlesierin“, um sie mit Nägeln an der Wand ihres Hotelzimmers zu befestigen. In der Fremde bot die Frau aus Arles Marianne nicht nur einen vertrauten Anblick, sondern war auch eine Leidensgenossin, wie sie Robert Walser in Cassirers Monatsschrift Kunst und Künstler 1912 mit großer Emphase beschrieben hatte: „So großartig wie schlicht; so ergreifend wie still; so bescheiden wie hinreissend schön ist das Bild der Frau aus Arles, der man ohne viele Umstände, mit der Bitte und mit der Frage nahen möchte: ›Sag mir, hast du viel gelitten?‹“ In der schwülen Hitze des abgedunkelten Raumes muss der gelbe Hintergrund des Bildes in Walsers Worten „wie des harten Schicksals Unentrinnbarkeit selber“ geleuchtet haben – aber auch wie ein Hoffnungsschimmer.
Auf der Weiterreise über Kalifornien nach New York wurde Marianne vom Zoll aufgehalten, woraufhin ihr spanischer Begleiter, der Marqués de Casa Fuerte, die Bilder kurzerhand als völlig wertlose Eigenschöpfungen ausgab, was ein prüfender Blick auf die „Arlesierin“ zu bestätigen schien. So gelang es Marianne schließlich mit diesen rund sechzehn bedeutenden Gemälden, einen Teil ihres beweglichen Vermögens nach Amerika zu retten. Im Umgang mit ihrer Sammlung erwies sie während der Kriegsjahre einiges Geschick, indem sie nur wenige Bilder verkaufte, die meisten aber an verschiedene Ausstellungen und Museen auslieh, was umso erstaunlicher ist, als deutsche Vermögen damals in den USA per Gesetz eingefroren wurden.
Als schließlich Frankreich von der deutschen Besatzung befreit war, entschloss sie sich aus Dankbarkeit, ihre „Arlesierin“ dem Louvre zu schenken. Sie selbst kehrte 1946 mit elf ihrer Bilder, die sie zuvor anonym an das San-Francisco-Museum geliehen hatte, nach Paris zurück. Dort publizierte sie 1956 unter Pseudonym ihren Briefwechsel mit Rilke in französischer Übersetzung, eingebettet in die autobiografische Skizze ihrer Kindheit und die Odyssee ihrer Kunstsammlung. Bis zu ihrem Lebensende 1973 kämpfte sie in Deutschland in verschiedenen Wiedergutmachungsprozessen teilweise erfolgreich um Entschädigung für ihr enteignetes Vermögen. Van Goghs „Arlesierin“ hängt bis heute im Musée d’Orsay, mit nachdenklichem Blick den Kopf aufgestützt, Schirm und Handschuh auf dem Tisch, heimgekehrt von einer abenteuerlichen Reise.