Meisterwerke der französischen Moderne, die heute in Museen diesseits und jenseits des Atlantiks verstreut sind, begleiteten die abenteuerliche Lebensgeschichte der Baronin Marianne von Goldschmidt-Rothschild
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11.08.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 216
Erst kürzlich hat die amerikanische Provenienzforscherin Christel H. Force die bedeutende, wenig bekannte Sammlung Mariannes sowie viele Details ihrer Biografie rekonstruiert. Forces materialreicher, exzellent recherchierter Aufsatz „Rolled Canvases Across Borders“, zu lesen auf arthistoricum.net, war eine wesentliche Grundlage für diesen Text. Derzeit arbeitet Force an einem Buch über Goldschmidt-Rothschild. Die zweite Pionierin bei der Wiederentdeckung dieser vergessenen Sammlerin ist die Historikerin Anna-Carolin Augustin mit ihrem 2018 erschienenen Buch „Berliner Kunstmatronage. Sammlerinnen und Förderinnen bildender Kunst um 1900“.
Den fulminanten Auftakt von Mariannes Kunstpassion bildete der Erwerb der „Arlesierin“, der in ihrem Elternhaus für einige Empörung sorgte. Denn dort war noch alles ganz im Stil des 18. Jahrhunderts gehalten, sodass ihr Vater sie bat, ihn vor dem Anblick der „gelbsüchtigen“ alten Frau zu verschonen und sie hinter einem Vorhang zu verbergen. Als Mentor stand Marianne der umtriebige Schriftsteller, Mäzen und Herrenreiter Alfred Walter Heymel zur Seite, der mit seinem Vetter Rudolf Alexander Schröder die belletristische Zeitschrift Die Insel herausgegeben hatte, aus der dann der Insel Verlag hervorgegangen war. Heymel war ein großer Netzwerker und gehörte einer avantgardistischen Elite an, die sich der kunstgewerblichen Reformbewegung und französischen Moderne verpflichtet fühlte. Er empfahl ihr die wichtigsten Pariser Kunsthändler und schickte ihr seine Broschüre „Antwort auf den deutschen Künstlerprotest“, mit der er sich gegen das nationalkonservative Lager um den Worpsweder Maler Carl Vinnen positionierte, zugunsten der modernen französischen Kunst. Auslöser für den Protest im „Bremer Künstlerstreit“ war der erste deutsche Museumsankauf eines van Goghs für die Bremer Kunsthalle. Marianne hegte keinen Zweifel, zu welchem Lager sie gehören wollte, wie ihrem Brief an Heymel vom 26. Februar 1913 zu entnehmen ist: „Ein Gefühl, das so stark ist wie bei mir der Drang zum Schönen – braucht sich nicht erst herauszukämpfen – es ist von jeher bei mir Lebensbedingung und gesund gewesen und hat mich geleitet und getragen, und ich bin ihm gefolgt – Sie werden gar nicht wissen, was ich wirklich meine – dazu kennen Sie mich zu wenig – ich bin ein bissl wild und frei innerlich aufgewachsen – und darum sag ich meistens ganz, was ich meine – auch das ist, glaub ich, ein Grund, weshalb man oft nicht versteht, was ich meine – weil ich es ganz sage!“
Ein bisschen wild und innerlich frei zeigte sich Marianne auch bei der Wahl ihrer Männer. Anfang 1914 heiratete „Germany’s whealtiest heiress“ kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs den englischen Lord Mitford aus dem Haus der Baronets Redesdale. Der Kaiser war alles andere als begeistert von dieser Verbindung, doch Marianne setzte ihren Willen gegen Vater und Kaiser durch. Die Hochzeit war das gesellschaftliche Großereignis, von dem sogar die New York Times berichtete. Das junge Paar erhielt als Hochzeitsgeschenk ein Palais in der Bendlerstraße 6, das es jedoch nie bezog, da Marianne die Ehe noch im selben Jahr annullieren ließ. Dass der englische Lord bald schon zu den Kriegsgegnern des Deutschen Reichs zählen würde, hätte ihr klar sein können, nicht jedoch, dass er bereits auf der Hochzeitsreise seine männliche Reisebegleitung vorzog.
So wurden in der Bendlerstraße statt des Brautpaares ostpreußische Flüchtlinge einquartiert sowie ein anderer Obdach suchender Bekannter namens Rainer Maria Rilke, den Marianne bei Heymels Beerdigung kennengelernt hatte. Der bis dahin in Paris lebende Dichter befand sich seit Ausbruch des Krieges in einer prekären Situation, in der er auf Unterstützung vermögender Freunde angewiesen war. Fasziniert von der Schönheit, Jugend und den musischen Interessen Mariannes, folgte er ihrer Einladung und verbrachte Ende 1914 drei Wochen in ihrem Haus, wo ihn über Weihnachten seine Freundin, die Malerin Lou Albert-Lazard, besuchte. In der Folge übernahm auch er die Rolle des Mentors. Von großer Offenheit und inniger Vertrautheit zeugen etliche Briefe, die Marianne nach dem Zweiten Weltkrieg publizierte. Beide verband nicht nur ihre pazifistische Haltung, sondern auch das Interesse an der bildenden Kunst, das bei Rilke in enger Wechselbeziehung mit seinem literarischen Schaffen stand.
Geprägt von seinen Erfahrungen in der Künstlerkolonie Worpswede und als Sekretär von Rodin in Paris teilte Rilke mit Marianne den reformorientierten Ansatz Heymels und die Vorliebe Meier-Graefes für die französische Moderne. Entsprechend war seine Begeisterung für Mariannes „Arlesierin“ ebenso groß wie seine Enttäuschung über den Verkauf ihres doppelseitigen Picasso-Bildes, das heute der Staatsgalerie Stuttgart gehört. Bei aller Kritik bewunderte er aber ihr künstlerisches Urteil: „Sie wissen, wie groß meine Überzeugung ist zu Ihrem Gefühl und Urteil von Malerei“, schrieb er ihr am 19. März 1915. Mit dem Krieg endete ihre Brieffreundschaft aus unbekannten Gründen, nicht aber Mariannes Sammelleidenschaft. Den Schwerpunkt bildeten die Franzosen Monet, Manet, Renoir, Cézanne, van Gogh, Gauguin, Rousseau und Toulouse-Lautrec. Hinzu kamen bedeutende Altmeister vermutlich aus der elterlichen Sammlung: Frans Hals’ „Lachender Junge“ von 1625 (heute im Mauritshuis in Den Haag) sowie zwei Cranach-Porträts von Martin Luther und seiner Frau.
Nach dem frühen Tod ihres Vaters 1917 erbte Marianne das gesamte Vermögen. Den zum Innenhof gelegenen Theatersaal am Pariser Platz ließ sie sich 1926 von Alfred Breslauer zu einer zweistöckigen Stadtwohnung umbauen. Dort gab sie ihre Diners, Partys und Kostümbälle, spielte selbst Theater und empfing zahlreiche Gäste. Harry Graf Kessler hielt etliche Einladungen in ihrem Haus in seinem Tagebuch fest, so am 9. Februar 1926: „Abends Gesellschaft bei Frau v. Friedländer Fuld am Pariser Platz. Es wurde Hofmannsthals ›Gestern‹ aufgeführt von Baby Rothschild Goldschmidt und Francesco Mendelssohn; und nachher eine Parodie ›Heute‹ von Curt Bois mit Baby.“ Nicht unbeeindruckt von der „großen Pracht der Aufmachung, viele galanierte Lakaien, Salon-Fluchten“ und der schlanken hübschen Erscheinung der Gastgeberin – „Baby sinnlich glühend und reizvoll“ –, lässt Kessler sich im Dezember 1929 hässlich über ihre Sammelleidenschaft aus: „Gegessen bei Baby Goldschmidt-Rothschild am Pariser Platz. 8–10 Personen, kleines Diner, äußerster Luxus, vier unschätzbare Meisterwerke von Manet, Cézanne, van Gogh, Monet an den Wänden, 30 Briefe von van Gogh in einem überreichen, hässlichen Einband wurden nach Tisch zu Cigaretten u. Kaffee herumgereicht. Armer van Gogh! Man empfindet schließlich pogromhaft: diese Leute müsste man totschlagen. Nicht Neid, sondern Ekel über die Verfälschung und Verflachung geistiger u. künstlerischer zu bloß materiellen Werten, zu Gegenständen des ›Luxus‹.“