Wenn eine Stadt viele Freiheiten bietet, braucht es Menschen, die sie nutzen: ein Gespräch mit dem Team hinter dem Atomino – dem berühmtesten Club von Chemnitz, der bald in neuen Räumen eröffnet
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09.08.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 215
BD Sie bringt auf jeden Fall Bewegung in die Stadt. Viele sind erst mal verblüfft und fragen sich jetzt: „Wieso wird Chemnitz Kulturhauptstadt?“ Man wird gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen. Oder umgedreht gedacht: Von allen Städten, die sich damals beworben haben, wäre es für Chemnitz am schlimmsten gewesen, nicht Kulturhauptstadt zu werden. Weil das Selbstbewusstsein eh schon nicht groß ist. Und weil genau die Chemnitzer, die die Bewerbung ohnehin nicht verstanden haben, dann gemeckert hätten: „Ja, warum haben die sich denn überhaupt beworben?“
JK Mit so einem Titel setzt auch ein Lerneffekt im Rathaus und in den Behörden ein. Bei einer Kulturhauptstadtbewerbung geht es ja auch um Lebenskultur, um Kultur im erweiterten Sinne und nicht bloß um irgendwelche Events. Das sollte im besten Fall eine Stadt dazu bringen, sich zu modernisieren und sich zu öffnen. Und das ist gerade in Ostdeutschland dringend nötig. Es gibt ja antidemokratische Tendenzen hier, und in Chemnitz hat sich das 2018 alles noch mal wie in einem Brennglas gebündelt.
JK Es gibt in dieser Stadt Defizite in verschiedenster Richtung. Daneben gibt es auch ein Problem mit der Selbstwahrnehmung der Menschen. Und da ist die Kulturhauptstadtbewerbung erst mal gut, um über den Tellerrand zu schauen und eine Internationalisierung aufzuzeigen.
BD Ja, denn 2025 wird das Fritz-Heckert-Gebiet, das in der DDR das drittgrößte Neubaugebiet war, 51 Jahre alt. Und wir sind Teil eines Vereins, dem Institut für Ostmoderne, der sich für das Fritz-Heckert-Gebiet interessiert und für moderne Nachkriegsarchitektur allgemein wie zum Beispiel den Chemnitzer Busbahnhof. Jetzt ist der Verein mit einem Projekt bei der Kulturhauptstadt dabei. Ein Teil dieses Projekts ist die Chemnitzer Platte. Wenn ich die hier noch mal herausheben darf.
BD Ja, das ist eine besondere Platte. Sie hat den Maßstab 1 zu 30, und sie ist grau.
BD Sie ist aus einem bestimmten Teig. Sie sieht aus wie ein Stück Beton. Und sie schmeckt hervorragend.
JK Es ist die Wiederbelebung eines traditionellen Chemnitzer Neubaugebäcks!
BD Der Gedanke war: Wenn wir schon Kulturhauptstadt werden, muss es auch eine Art lokales Traditionsgebäck in Chemnitz geben. Wie die Leipziger Lerche oder der Frankfurter Kranz. Und so kamen wir zu der Überlegung: Wenn die Menschen, die Chemnitz nicht kennen, immer denken, die Stadt sei grau und trist, dann lasst uns doch offensiv damit umgehen. Lasst uns so eine graue Platte backen!
BD Die Leute sind häufig absolut amüsiert. Sie fragen erst ungläubig, ob man das auch essen kann. Und wenn sie das Gebäck kosten, finden sie es superlecker, finden die Idee super. Nur der Chemnitzer an sich tut sich noch ein bisschen schwer, weil er immer sagt: „Na, aber wir sind doch gar nicht grau.“ Worauf ich antworte: „Aber Leute, nützt es was, wenn ihr das in die Welt rausschreit? Nein! Dann nehmt doch dieses Vorurteil lustig an und dreht es um.“
JK Ja, klar! Sie wurde auch schon auf der „Grünen Woche“ in Berlin präsentiert.
BD Oder zum Tag der Deutschen Einheit in Erfurt. Das war großartig. Da kamen einige Männer an unseren Stand, die haben sich erst informiert und dann beim Weggehen zu ihren Ehefrauen gesagt: „Ja, die Chemnitzer Platte – da habe ich doch schon mal von gehört!“ Man will also nicht einer von denen sein, die das nicht kennen. Unser Ziel ist jetzt, Bäckereien zu finden, die das Gebäck produzieren.
JK Wir sammeln auch noch Rezepte. Es gibt zwar ein paar alte Fotos und Artikel in Zeitschriften, aber blöderweise ist da immer der Rezeptteil ausgerissen. Das Original ist einfach nicht aufzufinden … (lacht)