Wenn eine Stadt viele Freiheiten bietet, braucht es Menschen, die sie nutzen: ein Gespräch mit dem Team hinter dem Atomino – dem berühmtesten Club von Chemnitz, der bald in neuen Räumen eröffnet
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09.08.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 215
JK Ich hatte nach der Wende erst einen Plattenladen, weil ich naiverweise gedacht habe, ich verdiene damit mein Geld und kann dann unabhängig Künstler sein. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich gemerkt habe, dass ein solcher Laden meine volle Kraft brauchte. Und irgendwann gab es den Punkt, wo ich gesagt habe: Ich will wieder Künstler sein. In dieser Phase der Konsolidierung sprachen mich die Leute an, die das Dr. Dr. Bartholdy in einen Club umwandeln wollten. Ich wurde dann Mitbegründer des Atomino und habe dort ein paar Jahre lang das Booking gemacht. Das war ganz gut, um erst mal finanziell über die Runden zu kommen.
JK Gab es schon, aber es war auch noch eine Menge Platz da. Es ging uns darum, für uns und unser Umfeld einen schönen Ort zu schaffen. Das war eben alles machbar. Allein wie wir herangegangen sind: Wir haben in dieser leeren Fabrik kurzerhand Räume okkupiert, und beim Ordnungsamt hat das niemanden interessiert. Heutzutage kann man sich das gar nicht mehr vorstellen.
BD Man ist ja auch so groß geworden, dass man immer alles selber machen musste, weil es nichts gab: selber bauen, selber Wände hochziehen, selber verfugen.
JK Brandschutz! Ich darf nicht dran denken. Ich bin froh, dass ich da ohne Haftstrafe durchgekommen bin, bis heute! (lacht)
MT Es kommt sicher keine Riesenveränderung. Das Konzept des Atomino steht ja fest. Aber eine neue Location macht immer auch andere Inhalte möglich. Der Club ist ja häufiger umgezogen. Das ist jetzt der sechste Ort, oder?
BD Stimmt, der sechste, und ich finde, auch der beste.
MT Die Location vorher im Kulturzentrum Tietz war ein Keller. Keine Fenster, keine frische Luft, alles schwarz gestrichen. Das war perfekt für eine Party oder auch mal für ein Konzert. Für andere kulturelle Veranstaltungen, eine Lesung, eine Ausstellung oder Gespräche, war das nicht so einladend. Denn den Geruch von der Party am Vorabend bekam man nicht raus, und der Fußboden klebte. In den neuen Räumen bieten sich solche Veranstaltungen dagegen an. Man kann tagsüber mehr Sachen machen. Man kann ein Bier in der Sonne trinken. Wir haben auch auf dem Parkplatz schon ein Open Air veranstaltet.
BD Und wenn man nachts draußen vor dem neuen Atomino steht und der Mond scheint durch den Glockenturm, dann fühlt man sich wie in Gotham City. Das ist schon cool.
JK Nach wie vor versteht sich Chemnitz in erster Linie als Arbeiterstadt, als Industriestadt. Kunst und Kultur werden hier von den Politikern immer noch als ein Nice-to-have betrachtet und nicht als ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Und das Lustige ist dabei, dass es in Chemnitz gerade auch aus der Musikecke unglaublich viel an Infrastruktur gibt: große Konzertveranstalter, Agenturen, Ausrüster von Festivals. Bei allen größeren musikalischen Sachen trifft man irgendwelche Chemnitzer. Aber von der Politik wird das immer so als Selbstverständlichkeit hingenommen. Dabei ist es wirklich ein Wirtschaftsfaktor.
BD Auch viele Bands kommen ja aus dem Nukleus Atomino.
MT Eine regelmäßige Förderung von der Stadt bekommt das Atomino nicht. Wir finanzieren uns zum Großteil selbst. Jetzt beim Umbau hat die Stadt uns allerdings bei der Lüftung unterstützt. Wir sind also nicht unsichtbar. Aber es gibt sicher Städte, die ihre Clubszene mehr unterstützen.
BD Es liegt sicher auch am Unterschied zwischen Unterhaltungskultur und Hochkultur, der hierzulande so gern gemacht wird. Dabei passt elitäres Denken gar nicht zur Geschichte dieser Stadt. Als sich zum Beispiel 1860 der erste Kunstverein in Chemnitz, die Kunsthütte, gegründet hat, waren da von Anfang an auch Handwerker dabei, eigentlich praktische Leute, die sich einfach gesagt haben, dass sie gerne in ihrer Stadt Kunst haben wollen. Also stellten sie Kunst aus und kauften sie an. Und daraus sind dann am Ende die Kunstsammlungen entstanden. Also man muss das Erbe auch als solches lesen: Ja, Chemnitz war immer eine Industriestadt, aber die Industrie hat im Prinzip die Kultur vorangebracht. Und damit könnte man viel stärker arbeiten, indem man das als eine Erzählung der Stadt anbietet.
BD Ja, genau. Die meisten Menschen in Chemnitz denken, dass Kunst und Kultur nicht zu ihnen gehören. Aber ich entgegne dann immer: Der Faustkeil ist auch Kultur!
JK Es ist der immerwährende Zwiespalt: Einerseits wäre mehr Weltläufigkeit und Trubel schon schön. Und andererseits ist man natürlich froh über das ziemlich Entspannte in Chemnitz und über die Freiräume, den Platz und die Möglichkeiten. Was aber wiederum mit Dingen zu tun hat, die nicht so die Granate waren, wie die hohe Arbeitslosigkeit nach der Wende. In den Neunzigerjahren haben 50000 Menschen die Stadt verlassen. Das ist bis heute so geblieben.