Mit einem Sanatorium brachte Alvar Aalto die Moderne nach Finnland. Seine organisch komponierte Architektur, die sich wie seine Möbel an der Natur orientierte, machten ihn zum epochalen Baukünstler
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02.02.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 209
Man könnte einige Wochen durch Finnland reisen, um sich Aaltos Wohnanlagen, Rathäuser, Gemeindezentren, Kirchen, Hochschulen und Museen anzuschauen. Auch in Helsinki ist einiges mehr zu sehen als das Wohnhaus und das Studiogebäude, etwa das ehemalige Kulturhaus der Kommunistischen Partei oder die wie ein Gletscher aufragende Finlandia-Halle. Das muss aber vorerst ein Wunschprojekt bleiben. Stattdessen konzentrieren wir uns auf Aaltos erstes großes Meisterwerk, das Tuberkulosesanatorium in Paimio. Dafür geht es zwei Stunden auf der Autobahn Richtung Westen. Dreißig Kilometer vor Turku fahren wir ab und erleben nach kurzer Zeit, wie sich mitten in den Kiefernwäldern hohe weiße, sternförmig auseinanderdriftende Gebäudescheiben aufragen. Im Jahr 1929 gewann Aalto den Wettbewerb, die Bauarbeiten zogen sich bis 1933 hin. Mit den glatten weißen Fassaden, den Fensterbändern, verglasten Treppenhäusern und grazilen Balkongeländern ist das Sanatorium sichtlich von der Bauhaus-Architektur beeinflusst. Doch merkt man schon hier, wie sich Aalto an der Strenge des Funktionalismus subtil abarbeitete. Er plante jedes Detail bis zu den Spucknäpfen und der Entsorgung des toxischen Inhalts. Vor allem ging es ihm um das Wohlergehen der 286 Patienten. Er selbst beschrieb es so: „Das Design der Zimmer ist abgestimmt auf den geschwächten Gesundheitszustand des bettlägerigen Patienten. Die Farbe der Decke wurde ausgewählt, um ein Gefühl von Frieden und Ruhe zu vermitteln, die Lichtquellen befinden sich außerhalb des Blickfeldes, die Heizung auf Fußhöhe, und das Wasser aus der Leitung verursacht kein Geräusch.“
Als nach dem Krieg die Behandlung mit Antibiotika die oft jahrelangen Luftkuren unnötig machten, wurde das Sanatorium in ein Krankenhaus umgewandelt. Als dieses vor einigen Jahren schloss, war das Schicksal des Baudenkmals ungewiss. Bis mithilfe zahlreicher Unterstützer 2020 die Gründung einer Stiftung gelang, die den großen Komplex nun liebevoll hegt und pflegt, museal und kulturell nutzt. In der ersten Saison 2022 kamen rund 30000 Besucher. Firmen können Räume für Veranstaltungen mieten, es gibt sogar einige Zimmer (natürlich mit Aalto-Möbeln), in denen man übernachten kann. Geplant ist, einen Trakt in ein Hotel umzuwandeln. In geführten Rundgängen lassen sich die ehemaligen Patientenzimmer, die Gemeinschaftsräume und die Liegeterrassen besichtigen. Besonders gelungen ist die Dauerausstellung zur Behandlungsmethode, die trotz aller Fürsorge kaum jemanden auf Dauer heilte. Auch Aaltos Einrichtung der Zimmer wird rekonstruiert und detailreich erklärt. Paimio war für ihn und Aino das Labor zur Entwicklung ihrer Möbel aus gebogenem Birkenholz. Wichtig war dabei die Zusammenarbeit mit dem innovativen Möbeltischler Otto Korhonen in Turku. Da erste Möbelausstellungen in London, Mailand, Helsinki und Zürich die Nachfrage angestachelt hatten, gründete Aalto mit der reichen Fabrikerbin Maire Gullichsen eine Firma, die bis heute besteht: Artek, den Namen leitete er her aus den Wörtern Architektur und Technik.
Leider wurde das originale Inventar des Sanatoriums in den Siebzigern großenteils verscherbelt. Dass Artek, seit 2013 in Besitz von Vitra, das Erbe von Aino und Alvar bis heute hochhält, erleben wir nach halbstündiger Fahrt in der Fabrik in Turku, wo die Möbel seit Korhonens Zeit hergestellt werden. Riku Rehell, der Produktionsmanager, erläutert die Fortschritte bei der Fertigung. Mussten die aufgeschlitzten und verleimten Birkenhölzer für die Biegung früher sechs Stunden gepresst werden, erledigt das eine Maschine heute in sechs Minuten. Die fünf- bis siebentägige Trocknung ist aber durch nichts zu beschleunigen, sonst verdunkelt sich die charakteristische helle Farbe. Immer noch wird viel mit der Hand gearbeitet, etwa beim mehrfachen Schleifen der Hölzer. Seit Monaten wird dafür ein Roboter angelernt, das gleiche Ergebnis zu erzielen. Entlassen soll dadurch niemand werden, denn auch in Finnland herrscht Mangel an Fachkräften. Ein anderer Aspekt der Firma: Seit 2006 kümmert sie sich mit „Artek 2nd Cycle“ – untergebracht in einem Gewölbe-Basement in Helsinki – auch um den Vintage-Markt von Aaltos Möbeln und anderen finnischen Designern der Moderne. Das reicht von seltenen, heute musealen Stücken aus den Dreißigern bis Fünfzigern bis zu gebrauchten Exemplaren, die preislich unter den Neuanfertigungen liegen oder aber bereits die nötige Patina haben, um ein Stuhlset aus den Achtzigern zu ergänzen.
Nach Alvars Tod 1976 führte Elissa Aalto das Architekturbüro weiter und brachte unvollendete Bauten zu Ende, etwa das Opernhaus in Essen. Als sie 1994 starb, hatte sie bereits das Studiohaus und das große Archiv mit Tausenden von Plänen, Zeichnungen und Schriftstücken in die Obhut der Alvar Aalto Foundation gegeben. Das Experimentalhaus in Muuratsalo übereignete Elissa dem Alvar Aalto Museum in Jyväskylä (auch ein Entwurf des Architekten), von wo es sich im Sommer besichtigen lässt. Im Jahr 1998 verkaufte die Familie schließlich das Privathaus an die Stiftung, sodass seither alle eigenen Bauten Aaltos nun der Öffentlichkeit zugänglich sind, zudem sorgsam erhalten und wissenschaftlich erforscht werden.
Von Alvar Aaltos Architektur lässt sich auch heute noch viel lernen. Technischen Fortschritt begriff er als Wohltat für die Menschen, aber er sah auch die Gefahr, dass die Industrialisierung einem zufriedenen, erfüllten Leben entgegenstand. „Man kann die Welt nicht retten, aber man kann ein Beispiel geben“, sagte er gern. Aaltos Gebäude sind nie bloße Form, die auf sich aufmerksam machen will. Sie beachten die Gesetze der Natur und der Menschlichkeit. Holz ist ebenso wichtig wie Beton. Egal ob arm oder reich, jeder sollte sich in seiner täglichen Umgebung wohlfühlen – da zählte für Aalto jedes Detail. Seine Bauten sind modern, obgleich sie immer wieder archaische Elemente integrieren; auch dies sorgt für wohltuende Individualität. In einer Vorlesung betonte Aalto 1957 wie so oft den Idealismus, der in antrieb: „Auch die Architektur hat immer einen versteckten Beweggrund, der um die Ecke lauert, die Vorstellung, das Paradies zu erschaffen.“ Hätten sich nur einige Qualitäten von Aaltos Baukunst auf breiter Basis durchgesetzt, dann wären wir dem Paradies tatsächlich ein bisschen näher.