Architektur

Humane Häuser

Mit einem Sanatorium brachte Alvar Aalto die Moderne nach Finnland. Seine organisch komponierte Architektur, die sich wie seine Möbel an der Natur orientierte, machten ihn zum epochalen Baukünstler

Von Sebastian Preuss
02.02.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 209

Trotz aller Eskapaden: Alvar brauchte und vergötterte Aino. Er konsultierte sie bei allen gestalterischen Fragen, der andauerende Austausch der beiden war ein wesentliches Element seines Erfolgs. Seine Frau war für ihn seine wichtigste Kritikerin, auf deren Urteil er nie verzichtete. „Nichts in der Welt ist so wunderbar wie unsere kleine Familie“, schrieb er 1945 aus Boston an Aino. „Es liegt an Dir, dass alles so natürlich und selbstverständlich ist – so wie die beste Architektur der Welt. Du bist die Quelle meiner Sicherheit und die stetige, ruhige Wärme, die unserem Leben Stabilität gibt und unsere Arbeit so erfüllend macht.“ Als Aino im Januar 1949 an Krebs starb, fiel Alvar in eine tiefe Krise, in der es ihm auch nicht half, sich wie besinnungslos in die Arbeit zu stürzen.

Erst eine neue Liebe gab Aalto Lebenskraft und Optimismus zurück. Wieder war es eine junge Architektin, die in sein Büro kam. Im Herbst 1952 heirateten er und Elissa Mäkiniemi; mit ihrem fröhlichen Temperament hielt sie bald die Fäden bei den Projekten wie im Leben des Architekten zusammen. Nach der Hochzeit bauten sie sich auf einer Insel im waldreichen Binnenland ein Sommerdomizil, dass sie „Experimentalhaus“ nannten. „Mit ihnen in diesen Jahren zusammen zu sein, war eine andauernde Party“, erinnert sich Göran Schildt. „Alvars spielerische Launen und das bereitwillige Lachen Elissas sind die Eindrücke, die sich eingeprägt haben.“

Alvar Aalto Helsinki
Alvar Aalto vor seinem Wohnhaus in einem Vorort von Helsinki, erbaut 1935/36. Bis 1955 betrieb er im Seitentrakt auch sein Architekturbüro. Der Bau besteht aus unregelmäßigen Kuben, typisch für Aalto ist der Mix aus viel Holz und anderen Materialien. © Eva ja Pertti Ingervo/Alvar Aalto Museum

Im Jahr 1955 zog Aalto in ein neues Studiogebäude, wo er endlich ausreichend Platz für seine nun 20 bis 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatte. Vom Wohnhaus führt ein zehnminütiger Fußweg dorthin. Es ist ein unverputzter, weiß geschlämmter Steinbau, die kurvierten Formen und das überraschungsreiche Innenleben von einem Betongerüst getragen. Mit jedem Schritt gewinnt man einen anderen Eindruck: Vor- und Rücksprünge, Erker, hoch liegende Fensterbänder, verdeckte Lichttrichter – nichts ist regelmäßig oder symmetrisch. Es war die Zeit, in der Aalto seine organische und „malerische“ Entwurfsmethode zur Perfektion gebracht hatte. Für viele Kenner ist es die bedeutendste Werkphase.

Aalto musste immer Menschen um sich haben, er suchte den ständigen Austausch, wobei er mit seinen Ideenfeuerwerken, seinem Charme und Witz gern im Mittelpunkt stand. Das galt für sein soziales Leben und genauso an seiner Arbeitsstätte. Sein eigenes Refugium gestaltete er als eine Art geschwungene Raumskulptur mit einem großen Fenster zum Innenhof, den er als Treffpunkt als ein Amphitheater gestaltete. Eine weiße Wand gegenüber ließ sich für den Filmliebhaber als Projektionsfläche nutzen. Auch wenn sich Aalto in seiner Sphäre zurückzog, hatte er immer Anteil daran, was die jungen Architektinnen und Architekten in ihren Pausen machten. Standen aufwendige Projekte bevor, dann wurde das Chefzimmer zum Arbeitslabor, voller Pläne an den Wänden, davor drängten sich die Modelle. Seit den Sechzigern gab es auch eine Kantine mit eigener Köchin, dort hatte Aalto seinen Stammplatz hinten in der Ecke.

Paimio Sanatorium Kantine
Raffinierte Deckenlösung in der Kantine. © Jaska Poikonen/Paimio Sanatorium

Aaltos Leben war eng mit der dramatischen Geschichte Finnlands verbunden. Er kam 1898 als Sohn eines Landvermessers zur Welt und wuchs auf dem platten Land sowie in Jyväskylä auf, einer Kleinstadt 270 Kilometer nördlich von Helsinki. Dort ging er auf das erste rein finnische Gymnasium des Landes, was vor dem Ersten Weltkrieg auch ein politisches Statement war. Denn Finnland gehörte als Großherzogtum zu Russland und musste sich gegen wachsende Übergriffe des Zaren auf das eigentlich autonome Gebiet wehren. Die gebildete Mittel- und Oberschicht sprach ohnehin mehr Schwedisch als Russisch, da das Land seit dem Mittelalter bis 1809 zu Schweden gehörte hatte. Bis heute ist es das zweite offizielle Idiom, Besuchern sofort dadurch erkennbar, dass alle Straßenschilder und Verkehrshinweise zweisprachig sind. Auch Aalto sprach perfekt Schwedisch und pflegte zeitlebens enge Kontakte und Freundschaften im westlichen Nachbarland.

Sein Architekturstudium in Helsinki, wo eine neoklassizistische Formensprache dominierte, war überschattet von politischen Wirren. Im November 1917 hatte Finnland der russischen Revolutionsregierung die Unabhängigkeit abgerungen, was in den folgenden Wintermonaten zu einem blutigen Bürgerkrieg führte. Auch Aalto kämpfte an der Front gegen die Roten Garden, was ihn nachhaltig traumatisierte, ihn umso mehr in seiner liberalen Grundhaltung stärkte und von dem Ideal einer sozial ausgerichteten Demokratie überzeugte. In seinem eigenen Lebensstil war er durchaus von seinem Vater beeinflusst, der ihn zum Studium mit den Worten verabschiedet hatte: „Alvar, denk immer daran: Du bist ein Gentleman.“ Die richtige Kleidung war Aalto stets wichtig, ebenso gutes Essen und Trinken. Trotz harter Arbeit bis in die Nächte herrschte in seinem Büro, gerade in den jüngeren Jahren, ständig Partylaune. Zuweilen wird einem schwindlig, wenn Göran Schildt in der Biografie beschreibt, mit welcher Energie und Ausdauer Aalto überall in Europa und Übersee sofort die für ihn wichtigsten Leute kennenlernte, mit sprühenden Vorträgen die Menschen für sich und seine Architektur begeisterte. Er selbst war sein erfolgreichster Promotor.

Alvar Aalto Esszimmer Küche
Esszimmer und Küche in Alvar Aaltos Wohnhaus. © Mirva Kakko/picture alliance/dpa

Trotz aller Hochachtung vergangener Epochen, vor allem der Verehrung der italienischen Renaissance und der Antike rund um das Mittelmeer, liebte er das moderne Leben. Vom ersten größeren Preisgeld kaufte er 1927 ein Auto, drei Jahre zuvor war er mit Aino per Flugzeug zur Hochzeitsreise aufgebrochen. Ins Kino gehen, Fotografieren, Englisch lernen mit der Linguaphone-Methode – das alles zelebrierte das Ehepaar schon in den Zwanzigern und Dreißigern. Auch wenn Aalto durchaus elitär lebte, war es eines der wichtigsten Ziele seines Schaffens, dass alle Menschen am modernen Fortschritt partizipieren sollten. Wegweisend führte er das – gemeinsam mit dem sozial eingestellten Unternehmerpaar Maire und Harry Gullichsen – ab 1936 bei der Sunila-Zellulosefabrik in Kotka am finnischen Meerbusen vor. Vom höheren Angestellten bis zu den Arbeitern: Für alle entstanden moderne Siedlungen, nach dem neuesten Komfort und eingebettet in die Natur.

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