Hans Ulrich Obrist

„Es ist ein philosophisches Spiel“

Christoph Amend befragt jeden Monat den Kurator Hans Ulrich Obrist. Diesmal geht es um kunstvolle Videogames, Atelierbesuche bei Avataren und die Jubiläumsschau der Julia Stoschek Collection

Von Christoph Amend
01.06.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 198

Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?

Spiele. Gestern haben wir ein Game veröffentlicht. Es trägt den Titel „Hivemind“ und ist eine Arbeit von Calum Bowden, Will Freudenheim und Joanna Pope vom Künstlerkollektiv Trust. Man läuft durch ein nie endendes Labyrinth, die Idee ist, eine Reise durch den Kopf einer kunstschaffenden Person zu machen.

Das Kollektiv Trust sitzt in Berlin.

Genau, sie arbeiten viel mit der Blockchain. Wenn man sich durch Hivemind bewegt, weiß man am Ende nicht mal mehr, dass man überhaupt in einem Labyrinth ist. Es ist ein philosophisches Spiel.

Inwiefern?

Man folgt einer kunstschaffenden Person und wird ständig mit Fragen konfrontiert. Es ist, wenn Sie so wollen, eine künstlerische Antwort auf „Elden Ring“, das gerade so erfolgreiche neue Computerspiel.

„Elden Ring“ wurde in Japan programmiert, der Fantasy-Autor George R. R. Martin hat daran mitgeschrieben.

In „Hivemind“ gibt es wie in „Elden Ring“ die sogenannten Brunnen der Weisheit, an denen man ständig vorbeikommt. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied: In „Elden Ring“ stirbt man andauernd, in „Hivemind“ dagegen ist der Tod sehr unwahrscheinlich. Übrigens gab es gestern keine Veranstaltung in unseren Räumen, gezeigt haben wir das Spiel zuerst auf Twitch, wie man das mit Spielen so macht.

Was haben Sie sonst gesehen?

Tatsächlich waren es viele weitere Spiele. Ich arbeite im Augenblick intensiv an der Ausstellung zum 15-jährigen Jubiläum der Julia Stoschek Collection in Düsseldorf im Sommer. WORLDBUILDING heißt sie, es wird sich dort alles um Games drehen. Es gibt Künstlerinnen wie Peggy Ahwesh und Rebecca Allen beispielsweise, die sich schon seit den 1970er- und 1980er-Jahren mit Computerspielen beschäftigen.

Rebecca Allen hat auch den Kraftwerk-Videoclip zum Song „Musique Non Stop“ gemacht, das war 1986.

Sie ist eine Pionierin, sie hat früh mit Avataren gearbeitet. Sie hat großen Einfluss etwa auf die Arbeiten von Ian Cheng, der 1984 geboren wurde. Seine Arbeit „BOB (Bag of Beliefs)“, 2018/19 entstanden mithilfe von künstlicher Intelligenz, werden wir in Düsseldorf auch zeigen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich künstlerisch mit den Spielen auseinanderzusetzen. Man kann sie erstens verfremden, überhöhen, in ihr Gegenteil umpolen … Oder man begibt sich in sie hinein, was in letzter Zeit vermehrt passiert. Ariana Grande oder Travis Scott haben Konzerte in „Fortnite“ gegeben, der Designer Demna Gvasalia von Balenciaga hat dort Mode gezeigt, der Künstler KAWS hat die Serpentine Gallery nachgebaut, wir sprachen bereits darüber.

Was wäre noch eine Möglichkeit?

Man entwickelt gleich eigene Spiele. In den letzten Wochen haben wir mit Julia Stoschek und dem Team online Dutzende Ateliers von Kunstschaffenden gesehen, die genau das machen. Vor ein paar Tagen haben wir LaTurbo Avedon besucht …

… guter Name …

… eine virtuelle Künstlerin und ein Kurator ohne geschlechtliche Zuschreibung, ein Avatar, geboren 2008 im Internet, in „Second Life“, dem Vorläufer des heutigen „Metaverse“. LaTurbo Avedon existiert dort und in Computerspielen wie „Minecraft“, „Overwatch“ oder „Dark Souls“. Im Juni wird es von und mit LaTurbo Avedon eine Ausstellung im MAK in Wien geben.

Wie verlief der Atelierbesuch?

LaTurbo hat uns verschiedene Spiele präsentiert, unterhalten haben wir uns im Chat. Interessanterweise haben wir uns viel zum Thema Erinnerung ausgetauscht, die Vergesslichkeit in virtuellen Räumen ist ja sehr groß. Im digitalen Zeitalter gibt es zwar viel mehr Informationen, aber nicht mehr Erinnerungen als früher. Eine Arbeit von LaTurbo, die bereits auf dem Manchester International Festival zu sehen war, fasziniert mich besonders. Bei Festivals stellt sich ja grundsätzlich die Frage: Wie könnte das dauerhaft stattfinden? Deshalb wurde das OMA von dem Büro des Architekten Rem Koolhaas und der Architektin Ellen van Loon beauftragt, eine Factory zu bauen, als permanente Institution. LaTurbo Avedon hat man dann eingeladen, diese neue Institution zu eröffnen, bevor sie physisch eröffnet wurde. Man konnte die Räumlichkeiten also digital zuerst besuchen, in seiner Arbeit „Your Progress Will Be Saved“ (2020) auf dem Festival in Manchester oder auch in anderen Computerspielen. Auf „Fortnite Creative“ hat es sogar eine eigene Insel dafür gegeben.

Und wofür interessieren Sie sich derzeit außerhalb der Kunstwelt?

Ich habe mich mit Lorecraft beschäftigt, das ist eine neue Managementtheorie, die im Internet von Venkatesh Rao entwickelt wurde.

Service

Ausstellungen

„WORLDBUILDING: Videospiele und Kunst im digitalen Zeitalter“,

5. Juni bis 10. Dezember 2023,

Julia Stoschek Collection

jsc.art

„LaTurbo Avedon: Pardon Our Dust“,

22. Juni bis 25. September,

MAK, Wien,

mak.at

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