Gerhard Richter

Gleichgültigkeit und Glaube

Mit seinem heterogenen Werk zwischen Geschichtsmalerei und konzeptuellen Farbtafeln dominiert Gerhard Richter seit Jahren den Kunstbetrieb. Am 9. Februar feiert er seinen 90. Geburtstag. Zwei langjährige Kenner geben Einblick in die Höhen und Tiefen seiner Malerei

Von Eckhart Gillen und Eduard Beaucamp
03.02.2022

Einerseits wünscht sich Richter, dass ein Gemälde dem Glauben an eine transzendente Welt „wenigstens sehr nahe“ komme. Andererseits weiß er, dass seit der Aufklärung diese religiöse Dimension der Malerei säkularisiert worden ist. Dennoch hält er daran fest, dass es einen gemeinsamen Glauben an die Kunst als „ ›religio‹, ›Rückbindung‹, ›Bindung‹ an das nicht Erkennbare, Übervernünftige, Über-Seiende“ gebe. Darin bestärkt ihn auch sein kunsthistorischer Begleiter Benjamin Buchloh im Film von Corinna Belz, wenn er mit der eigenen Person beglaubigt, wie er vor den „Abstrakten Bildern“ – trotz aller Dekonstruktion der malerischen Aura durch Zufall und Transparenz des künstlerischen Verfahrens – hinterrücks wieder von einer elegischen Stimmung und Andacht eingefangen worden sei. Die Bilder und ihre Wirkungen bleiben in ihrer Rezeption genauso ambivalent wie die Zweifel und Hoffnungen ihres Schöpfers.
Angefangen hat Richter bekanntlich mit seinen Bildern nach Fotografien. Damals in der DDR durfte allein die Partei als unbestrittene politische Avantgarde über die Richtigkeit von Form und Inhalt des sozialistischen Realismus befinden. Daher musste Richter, wollte er in der DDR als Maler Erfolg haben, sich dem unerforschlichen Willen dieser Partei unterwerfen, auf Kritik mit dem Ritual der Selbstkritik reagieren. Wenn Richter in seiner westdeutschen Gemäldeproduktion seit 1962 sich scheinbar willenlos den unbekannten Intentionen anonymer Fotografen auslieferte, dann empfand er das als entlastend. Das Foto als Readymade befreite ihn von der Qual, originell zu sein: „nichts erfinden, keine Idee, keine Komposition, keinen Gegenstand, keine Form – und alles erhalten: Komposition, Gegenstand, Form, Idee, Bild“.
Die Verwendung von Schwarz-Weiß und der Unschärfe als damals immer noch signifikante Erkennungsmerkmale der Fotografie benutzte Richter nicht mit der Absicht einer Verfremdung und Relativierung der Realität, sondern im Sinne von Wolf Vostells Prinzip „Verwischen um klar zu sehen“. Entgegen aller Medientheorie betrachtete Richter die Fotografie naiv und provokativ als „das einzige Bild, das absolut wahr berichtet, weil es ›objektiv‹ sieht; ihm wird vorrangig geglaubt, auch wenn es technisch mangelhaft ist“.

Doch Richters Aussagen, seine Fotovorlagen seien Zufallsfunde, willkürlich und bedeutungslos, erweisen sich bei näherer Betrachtung als Tarnung. Unter den mehr als 130 Gemälden nach Fotos befinden sich ein paar „Kuckuckseier“, die in die scheinbare Nonsenswelt der Trivialfotografie einen brisanten Inhalt transportieren: Richters Familie in der NS-Zeit, die Bilder verbinden persönliche Erinnerung mit Zeitgeschichte. Die Bilder von „Onkel Rudi“ und „Tante Marianne“ waren in den Sechzigern eine Demonstration dafür, dass Malerei möglich war – trotz Duchamp, dem Übervater der Avantgarde. „Ich wollte Retina-Kunst, malerisch, schön und wenn’s sein muss auch sentimental. So was war nicht ›in‹ damals, das war Kitsch.“
Als ein Ernüchterter, der dem Sozialismus entflohen war, wollte er nun eine Malerei ohne Programm, ohne Stil, ohne Anliegen verfolgen. Keine „Absichten, kein System, keine Richtung“ sollte erkennbar sein. Andererseits glaubt Richter, geprägt vom sozialistischen Humanismus der DDR, gleichzeitig unbeirrt daran, dass Kunst „immer im Wesentlichen mit Not, Verzweiflung und Ohnmacht zu tun“ habe. Diesen „Inhalt vernachlässigen wir oft, indem wir die formale, ästhetische Seite zu isoliert wichtig nehmen. Dann sehen wir in der Form nicht mehr den Inhalt, sondern die Form als das den Inhalt Fassende und Zusätzliche. Dabei hat der Inhalt keine Form, sondern ist Form.“ Ob dieser existenzielle Inhalt tatsächlich Richters Formenwelt grundiert, bleibt Glaubenssache. Wer sich auf seine Werke einlässt, entkommt nicht dem Zwiespalt.

Eckhart Gillen hat wichtige Ausstellungen zur deutsch-deutschen Kunst kuratiert. Seine Schriften zum Thema sind Standardwerke

DER MEISTER DER INDIFFERENZ

von Eduard Beaucamp

Gerhard Richters Wege sind nach den Schulbegriffen der klassischen Moderne nicht geradlinig verlaufen. Im Gegenteil: Die jähen Sprünge, Wechsel und Widersprüche sind seine Taktik, das abrupte Nacheinander, das gleichzeitige Nebeneinander und sogar Ineinander kontroverser Stilmodi sind seine Methode. Der Zickzackkurs hat die Urteile vielfach flattern lassen. Das quecksilbrige Werk zeigte anfangs Symptome einer Krise; es war vor allem ein Affront gegen den Glaubenskodex der Moderne. Nach der Übersiedlung in den Westen sah der junge Richter seinen Fall als „personifizierte Krise“. Er glaube an nichts und sei gegen fast alles: gegen Ideen und Ideologien, gegen die Wahrheit, den Sinn und die Utopien in der Kunst, gegen die Zukunft und den Fortschritt, gegen Erfindungen, Behauptungen, Anliegen und vor allem gegen jede Form von Ausdruck und Stil.
Doch Richter hat sich in der nihilistischen Zweiflerecke so stabil und feudal wie kein zweiter eingerichtet. Die Zweifel lähmten ihn nicht, sondern setzten eine ironische, bisweilen zynisch anmutende, jedenfalls ungebrochen-robuste Produktivität frei. Zur Bekräftigung, aber auch Überlistung seiner Zweifel spielte der Künstler immer neue Möglichkeiten und Modalitäten der Malerei aus, darunter solche, die sich gegenseitig radikal ausschließen. Kennzeichnend für den „postmodernen“ Status dieser Kunst ist, dass Richter nichts erfindet (die Erfindung steht auf seiner Verbotsliste), sondern die Vorlagen aus dem Fundus zeitgenössischer Ästhetik bezieht, sie neu bearbeitet, steigert und perfektioniert.
Der permanente Modus- und Rollenwechsel hat Richter nicht alt werden lassen. Bei jedem Szenenwechsel konnte er mithalten. Ohne sich jemals zu bekennen oder festzulegen, steuerte er seit den Sechzigerjahren in einem Slalom ohnegleichen Paraphrasen und Kommentare zur Pop-Art und zum Fotorealismus bei, dann zu einer neuen Landschafts- und Historienmalerei, gleichzeitig zum Neobiedermeier mit Kerzenbildern, Stillleben und Mädchenporträts, zur Monochromie und Concept-Art, schließlich zu einem wiederaufflammenden Expressionismus, den er zur leuchtenden Theatralik monumentaler Abstraktionen steigert. In der Dressur der Gegensätze, im Spiel mit den Alternativen triumphiert sein geniales Geschick. Der größte Triumph: Der Kunstbetrieb akzeptiert die Simulationen und Surrogate als Originale und honoriert sie mit Höchstpreisen. Heute ist der über achtzigjährige Maler, bei bescheidenem persönlichem Auftritt, allgegenwärtig und fast allmächtig: Er bricht Kunstmarktrekorde, bespielt die besten Museen und Sammlungen der Welt, dominiert das Foyer des Bundestags, spendet Gläubigen im Kölner Dom das sakrale Farblicht eines Fensters und hat im Dresdner Albertinum, seinem Heimatmuseum, die ostdeutsche Konkurrenz aus dem Feld geschlagen und sich mit säkularem Anspruch in zwei großen Sälen vis-à-vis von Caspar David Friedrich etabliert.

Nächste Seite