Buchtipp: Japanisches Design

Minimalistisch, pur und funktional

Vom Spoke Chair bis zur Kikkoman-Flasche: Ein neues Standardwerk erschließt die ganze Welt japanischen Designs von 1945 bis heute

Von Mayako Forchert
03.01.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 18

Tokujin Yoshioka sorgte im vergangenen Sommer für Gesprächsstoff, als seine Fackel mit dem olympischen Feuer am 23. Juli das Stadion in Tokio erreichte und die um ein Jahr verschobenen Sommerspiele feierlich eröffnete. Denn alles an Yoshiokas Fackel war symbolgeladen: Ihre Form war eine stilisierte Kirschblüte, die der Designer mit Zeichnungen von Schulkindern aus der Gegend von Fukushima – dem Ort der Reaktorkatastrophe von 2011 – verziert hatte. Ihr Material, Aluminium, verwies in dieselbe Richtung – denn daraus hatte die Regierung provisorische Unterkünfte für die dort obdachlos gewordene Bevölkerung gebaut.

Diese und viele weitere Informationen finden sich in dem üppig gestalteten Buch „Japanisches Design seit 1945“, herausgegeben von Naomi Pollock. Auf über 400 Seiten und mit 700 farbigen Abbildungen von Möbeln, Geschirr, Mode, Textilien, Elektronik, Verpackungen, Fahrzeugen und Werbegrafiken versehen, eröffnet es ein reichhaltiges Panorama des Produktdesigns. Bislang galt ein Ausstellungskatalog zum Nachkriegsdesign Japans mit fast gleichem Titel – „Japanisches Design seit 1950“ (Hg. Kathryn Hiesinger, Kunsthalle Düsseldorf) – als Standardwerk, das allerdings schon 1995 erschienen und längst vergriffen ist. Die aktuelle Publikation übernimmt nun diese Rolle und kann natürlich mit zeitgenössischen Gestaltungsformen punkten. So führt sie beispielsweise zu den Stühlen „Hiroshima“, den Textilien von Katsuji Wakisaka oder zu den neuesten Kreationen des Studio GALA von Ryoichi Kabayashi, der mittels traditioneller Handwerkskunst schlichte Tisch- und Küchenutensilien entwirft. Die Schalen, Teekannen, Platten und besonders der vierkantige Sake-Krug mit passendem Becher aus Zedernholz von 2019 strahlen das aus, was man allgemein unter japanischem Design versteht: Minimalismus, Purismus, Funktionalität sowie anspruchsvolle Verarbeitung.

Japanisches Design nach 1945 Katsuji Wakisaka
Katsuji Wakisakas Textil „Kikuzukushi“ (2010) ist eine Hommage an Japans geliebte Chrysantheme. © Katsuji Wakisaka

Spätestens seit der Meiji-Zeit (1868 – 1912) beeinflusst die in Japan fest verankerte Vorstellung des „monozukuri“ („Dinge erschaffen“) die Herstellung und Produktion von Waren, seien es von Hand gefertigte oder computergesteuerte. In dem Begriff enthalten ist die Vorstellung, das Beste zu geben. Ohne diese wäre weder das rasante Aufholen vom Agrarstaat zur Industrienation noch das Wirtschaftswunder nach dem Krieg zu schaffen gewesen. Bekanntlich war Japan lange Zeit bei Autos, Kameras und Unterhaltungselektronik weltweit führend. Nun steckt das Land seit vielen Jahren in einer lähmenden Wirtschaftskrise und sieht sich globaler Konkurrenz ausgesetzt. Große Chancen sehen japanische Elektronikfirmen seit geraumer Zeit in der Gesundheitsbranche, für die sie Roboter für die Alten- und Krankenpflege entwickeln.

Naomi Pollocks Buch macht sichtbar, welche Strategien im Design neu an Bedeutung gewinnen. Dazu ist ein Blick in die Vergangenheit nötig, der in Essays wie Raumgestaltung und Stuhldesign in Japan oder Skandinavisches Design und das Wiederaufleben des Japanischen Design lesenswerte Aspekte liefert. Sie erläutern, wie das moderne Design in Japan erst in der Auseinandersetzung mit westlichen Ideen, Formen und Theorien entstanden ist und mit der Gründung des Industrial Arts Research Institute (IARI) 1928 und des Industrial Arts Institute (IAI) für den Export 1952 von offizieller Seite gefördert wurde. Westliche Designer wie Bruno Taut, Charlotte Perriand, Charles und Ray Eames, George Nelson oder Kaj Franck agierten als Gastdozenten oder Berater; und durch staatliche Studienprogramme konnte der Designnachwuchs nach Übersee, Dänemark und Finnland geschickt werden. Japan hat gelernt – und immer wieder eine eigene Sprache gefunden. Diese zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte seines modernen Designs – und der Bildband zeigt dessen Vielfältigkeit wie in einem zweidimensionalen Museum. 80 Designerinnen und Designer werden vorgestellt, wobei erstere deutlich in der Minderzahl sind, weil sie es nach wie vor schwer haben, sich in der Männerdomäne zu behaupten.

Naomi Pollock Japanisches Design seit 1945 Wink
Für den „WINK chair“ von Toshiyuki Kita, entworfen 1980, gibt es Bezüge in bunten Farben. © Mario Carrieri

Einen Schwerpunkt nimmt der Concept-Store „Muji“ ein. Von dessen Firmenchef Masaaki Kanai stammt auch das Vorwort in dem Buch. Die wohl bekannteste No-Name-Marke, 1980 noch mit dem Namen Mujirushi Ryôhin – „keine Marke, gute Produkte“ – von einer Gruppe japanischer Designer als „Antithese zur Konsumgesellschaft“ gegründet, traf mit ihrem auf das Wesentliche reduzierten Design zu fairen Preisen den Nerv der Zeit. Zunächst allerdings nur in Japan. Alles Schrille und Unnötige wurde abgelehnt, die Produkte sollten sich harmonisch, fast unsichtbar in die jeweilige Umgebung einfügen und nur eine Funktion bedienen. Muji ist keine herkömmliche Warenhauskette, sondern steht für eine minimalistische, ressourcenschonende Geisteshaltung. Zum Grundgedanken gehört auch, dass die Designernamen stets ungenannt bleiben, wenngleich im Lauf der Jahre bekannt wurde, dass berühmte Gestalter wie Jasper Morrison oder Naoto Fukasawa für Muji arbeiteten. Naomi Pollocks Buch könnte mit seinem packpapierbraunen Schuber und dunkelroten Einband – wiedererkennbare Verpackungsmerkmale dieser Marke – auch ein Muji-Produkt sein.

Naomi Pollock Japanisches Design seit 1945 Spoke Chair
Formvollendet: Katsuhei Toyoguchi entwarf den „Spoke Chair“ im Jahr 1963. © Tendo Co., Ltd.

Freude macht die Begegnung mit alten Bekannten, hier als „Alltagsikonen“ bezeichnet, die bewusst machen, wie verbreitet japanisches Design auch hierzulande schon lange ist. Ein prominentes Beispiel ist die kleine Sojasaucen-Flasche mit dem roten Ausgussdeckel der Firma Kikkoman. Sie hat sich unmerklich in unsere Haushalte geschlichen. Kenji Ekuan (1929 – 2015) hatte sie 1961 als Tischspender entworfen, nachdem er drei Jahre mit fast hundert Prototypen die ideale Form gesucht und vor allem an einem nicht tropfenden Ausgussdeckel getüftelt hatte. Das Geheimnis der Tülle liegt in den zwei gegenüberliegenden Öffnungen, die die Luft in einem 60 Grad-Winkel entweichen lassen. Die an eine traditionelle Sake-Flasche erinnernde Form ist aus Glas, das die tiefbraune Würzsauce gut zur Geltung bringt. Die schlichte, elegante Flasche wird in mehr als hundert Länder exportiert – und das bis heute in unveränderter Form. 

Naomi Pollock Japanisches Design seit 1945 Cover
Naomi Pollock (Hg.), „Japanisches Design seit 1945“, DuMont Buchverlag, Köln, 2020, 58 Euro. © DuMont Buchverlag, Köln

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