Adolf Dietrich wird oft als der große Naive der Neuen Sachlichkeit verklärt, dabei ist die Kunst des Schweizer Außenseiters erstaunlich konzeptuell und ihrer Zeit weit voraus. Am Bodensee kann man seine Malerei entdecken
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07.12.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 166
Diese „mechanische“ Herangehensweise, die im Grunde radikalen Kompositionsmethoden, die in der Dietrich-Rezeption lange unterschlagen oder ignoriert wurden, irritiert seine akademischen Kollegen, wie den Künstler Carl Roesch, der ihn 1942 in Berlingen besucht, um eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich zu organisieren. Er notiert: „Sitze Dietrich gegenüber, der arbeitet, einen ausgestopften Vogel neben sich, den er genau abmalt u. zugleich gut in die Landschaft einfügt. Heute spüre ich etwas wie Dämonie von diesem begabten ,Mechanismus‘. Er scheint keine Beziehung zu anderen zu haben, sagt ,So, so‘ und ,Dada‘, zu größerem Verhältnis scheint man nicht zu kommen. Er ist sehr gefestigt, unbeeinflussbar wie ein Stück Natur, das nun gerade malt, wie ein Baum wächst und Früchte trägt.“
Die Entfremdung entstammt nicht nur dem Blick des etablierten, urbanen Künstlers auf den malenden Kleinbauern. Da ist auch die Arroganz der modernen Kunstwelt, die völlig erstaunt ist, dass jemand ganz ohne ihren Kanon zu erstaunlich progressiven Lösungen kommt. Dass da eine Kunst entsteht, die wächst und abgeerntet wird wie ein Baum oder ein Feld, die von ihrem Schöpfer mit demselben Pragmatismus, derselben Liebe betrachtet wird wie die Meerschweinchen aus der eigenen Zucht, deren Verkauf Geld bringt und deren Fleisch man in Kriegszeiten essen kann.
Dietrichs gesamte Karriere ist geprägt von Projektionen auf seine Persönlichkeit und sein Werk. Er wird sich bei jedem Bild bewusst gewesen sein, dass die bäuerliche Welt, die er malt, im Verschwinden begriffen ist. Um sie festzuhalten, greift er sehr kreativ zu modernen Methoden. Sein künstlerischer Eigensinn entspringt aber einer absolut unmodernen Idee, die ihm von seinen Eltern mit dem Namen seines toten Bruders in die Wiege gelegt wurde. Richard Phillips, ein prominenter New Yorker Maler, der seit 2003 in seinen hyperrealistischen Bildern Dietrich aufgreift und 2010 im New Yorker Swiss Institute eine Doppelausstellung mit sich und dem Schweizer organisierte, bezeichnet im Kunstmagazin Parkett Dietrichs Detailversessenheit, mit der er Eichhörnchen malt, als „demokratische Akribie“: „Die Wirkung dieser hingebungsvollen Wiedergabe entzog dem Ort und den Tieren ihren spezifischen Charakter (und damit auch Psychologie und Verhaltensweise): Sie waren von solcher Intensität durchtränkt, dass sie menschliche Qualitäten anzunehmen schienen.“
In Dietrichs Bildern herrscht wirklich Gleichberechtigung zwischen Mensch und Tier. Alle sind demselben Kreislauf aus Werden und Vergehen, Fressen und Gefressenwerden unterworfen. So möchte man in den Augen eines Fuchses, der gerade einen Eichelhäher reißt, die Züge des Künstlers erkennen. Die Trauer über sein eigenes Vergehen drückt er durch verdorrende Blütenblätter aus, die auf ein Meerschweinchen rieseln, oder durch einen toten, gefrorenen Buchfinken im Schnee. In seinem Kosmos hat alles Lebendige ein von der Natur, von Gott gegebenes Schicksal. Mensch und Tier sind nicht Schöpfer, sondern Diener ihrer Welt, denen wieder andere folgen, wenn sie ihre Bestimmung erfüllt haben. Dietrichs Auftrag war es, Maler zu sein. Gewiss war er dabei auch trickreich und berechnend, aber er hat diese Aufgabe mit tiefer Demut und berührender Ernsthaftigkeit angenommen.