Adolf Dietrich wird oft als der große Naive der Neuen Sachlichkeit verklärt, dabei ist die Kunst des Schweizer Außenseiters erstaunlich konzeptuell und ihrer Zeit weit voraus. Am Bodensee kann man seine Malerei entdecken
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07.12.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 166
Im selben Jahr 1925 eröffnet in der Mannheimer Kunsthalle die bahnbrechende Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“. Sie vereint Maler wie Otto Dix, George Grosz und Rudolf Schlichter und prägt den Namen der Bewegung. Nach dem Ersten Weltkrieg fordern diese Künstler als Reaktion auf die zerplatzten Utopien der expressiven und abstrakten Avantgarden zur Ernüchterung auf, zur Rückbesinnung auf die Realität. Doch zugleich ist die Strömung völlig heterogen. Während die Hinwendung zur Realität für Dix oder Schad mit der Darstellung und Kritik des modernen Lebens und der industriellen Gesellschaft einhergeht, fordert eine konservativere Fraktion die Rückbesinnung auf altdeutsche Meister, auf Klassik, Romantik oder gar die deutsche Nation.
Dietrichs eigenwillige Bilder treffen den Geschmack von Progressiven und Traditionalisten. Dazu trägt auch der Mythos von Dietrich als „Schweizer Rousseau“ bei, an dem der Künstler und sein Galerist eifrig basteln. 1925 schreibt der Kritiker Robert Breuer, Dietrich lese gewiss keine Kunstliteratur, so wie Rousseau: „Aber wie dieser Zöllner ist der Holzfäller Adolf Dietrich ein Maler aus Plaisier. In den Bildern lebt derselbe Rhythmus, der im Klingen der Axt nicht weniger ist, als in dem Fluss der Wellen und im Rauschen der Wälder.“ 1927 erscheint Margot Riess’ Buch „Der Maler und Holzfäller Adolf Dietrich“, in dem die Autorin gar das Bibelwort „Selig sind die, die geistig arm sind“ bemüht, um nur nicht das Gefühl aufkommen zu lassen, Dietrich habe zu viel gelernt.
Passend dazu lässt Tannenbaum den nun als Vollzeitkünstler tätigen Dietrich mit Statisten im Wald als Holzfäller oder vor einer Staffelei bei der Pleinairmalerei posieren, obwohl er nie Ölbilder im Freien gemalt hat. Mit diesem Image erobert er bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die internationale Szene. Er zeigt seine Werke in den einflussreichen Galerien Neuendorf, Cassirer, Flechtheim und Kahnweiler, in der Berliner Nationalgalerie oder der hannoverschen Kestnergesellschaft. Die Wanderschau „Masters of Popular Painting. Modern Primitives of Europe“ bringt 1939 Dietrichs Werke nach London und sogar ins New Yorker MoMA. Doch durch den Vormarsch des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg kommt die internationale Karriere zum Stillstand, bis zu seinem Tod wird Dietrich nur noch in der Schweiz ausstellen. In all den Jahren bleibt jedoch eines konstant: die Frage, ob er denn wirklich in den Kanon der Moderne gehört. Immer wieder wird gerätselt, wie er denn mit seinem „primitiven Handwerk“ zu diesen Bildern komme, ob er überhaupt Werke von Henri Rousseau, Ferdinand Hodler oder Albrecht Dürer gesehen oder je ein Museum betreten habe.
Er hat. Dietrich korrespondiert nicht nur mit Künstlern oder Kuratoren. Er besucht die Pinakothek in München, sieht Ausstellungen mit expressiver Kunst, Werke von befreundeten Künstlern. Er bekommt Mappen mit Reproduktionen von Dürer oder Holbein geschenkt. Und er ist eng mit der Künstlervereinigung „Der Kreis“ verbunden, deren Mitglieder rund um den Bodensee leben; darunter auch Rudolf Wacker, der bedeutendste Vertreter der Neuen Sachlichkeit in Österreich, mit dem Dietrich ein reger Austausch verbindet. Der Witz ist nur, dass all dieses Wissen um Kunst, all diese Kontakte ihn nicht in seinem Werk beeinflussen, ebenso wenig wie jede Kritik an seiner Arbeit. Sein Werk sieht in seinen Anfängen kaum anders aus als an seinem Ende. Die „Roten Abendwolken über dem See“ von 1917 mögen so modern anmuten wie ein im selben Jahr entstandener Sonnenuntergang des Schweizers Félix Vallotton, der in Paris zum Kreis der „Nabis“ um Pierre Bonnard und Édouard Vuillard gehört hat. Doch Dietrichs Bilder haben damit kaum etwas zu tun.
Dennoch klingt in ihnen nicht das Rauschen der Wälder nach, sondern ein Denken, das man heute konzeptuell nennen kann. Zudem ist er kein Maler „aus Plaisier“, sondern ziemlich geschäftstüchtig. Seine täuschend authentischen Idyllen entstehen nach unzähligen in der Natur gemachten Skizzen, Vorzeichnungen, Präparaten, Fotos, Drucken, Postkarten und Stichen, aus denen Dietrich seine Gemälde am Holztisch zusammenmontiert – wie ein Frankenstein der Landschafts- und Tiermalerei. Auch bereits bestehende Gemälde dienen ihm als Vorlage für neue Werke. 1927 erhält Dietrich eine Kamera, macht damit Tausende von Fotos, von denen er viele als Vorlage für seine Gemälde nutzt. Er nimmt die Ausschnitte aus seiner Umgebung auf, die er dann auch zeichnet und malerisch umsetzt. Dieses „Aneignen“ von Bildern, die „Appropriation“, ist in der Kunst von Autodidakten und sogenannten Outsidern durchaus verbreitet. Doch die Konsequenz, mit der Dietrich diese Mittel nutzt, erinnert eher an Andy Warhol als an die Werkstätten der alten Meister.
Seine Käufer und Sammler können sich aus Skizzenbüchern und zugeschickten Fotos ihre eigenen Versionen der Gemälde zusammenstellen, wie aus Katalogen. So schreibt 1934 eine Kundin: „Sehr geehrter Herr Dietrich, Ihren liebenswürdigen Brief und die Photos habe ich erhalten. Das gewählte Sujet habe ich mit ,gewählt‘ bezeichnet. Daran möchte ich folgendes vorschlagen: Den Landstreifen des anderen Ufers etwas höher zu halten, und wie in Föhnstimmung gut sichtbar. Auf keinen Fall bitte das Schiff entfernen im See, das gefällt mir ausgezeichnet. Ich bin große Liebhaberin von Fischerbooten wie auf dem Bild mit x bezeichnet sichtbar. Vielleicht liesse sich ein solches in der Seezunge anbringen oder im Vordergrund?“