Kunstgeschichte(n): Nashorn

So lebendig wie die Fantasie

Gezeichnet, gemalt, aber selten gesehen: Wie das Nashorn seinen Platz in der Kunstgeschichte einnimmt

Von Peter Dittmar
27.09.2021
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 15

Ebenfalls 1515 hat auch Hans Burgkmair ein „Rhinoceros“ in Holz geschnitten. Möglicherweise nach derselben Vorlage. Vielleicht sogar noch vor Dürer, weil die Fugger in Augsburg über direkte Handelsverbindungen nach Lissabon verfügten. Jedenfalls ist es dichter an der Wirklichkeit. Sein Panzer ähnelt nicht wie bei Dürer einer Rüstung. Auch fehlt ihm das (falsche) zweite kleine Horn hinter dem Halsansatz. Und eine Kette und ein Tau um die Vorderbeine deuten an, dass es sich um ein gefangenes Tier handelte. Von dem Holzschnitt ist jedoch nur noch ein Exemplar in der Wiener Albertina überliefert, während Dürers Nashorn in hoher Auflage gedruckt und weit verbreitet war. Bis zu 5000 Exemplare in acht Zuständen könnten es gewesen sein, mal mit fünfzeiligem, mal mit fünfeinhalbzeiligem, mal ohne Text. Dazu kommt eine niederländische Version, die behauptet, das Nashorn sei „near t’leven geconterfeyt“ worden. Zu Dürers Lebzeiten ist nur der erste Zustand erschienen, danach ging der Holzstock durch mehrere Hände, ehe mit der Clair-obscure-Version – einer zusätzlichen grünlichen oder bräunlichen Tonplatte, um Beschädigungen zu verdecken – nach 1620 die letzten Exemplare gedruckt wurden. Heutige Käufer irritieren die posthumen Abzüge offenbar nicht. Denn bei Karl & Faber wurde die Ausgabe mit der Tonplatte 2013 für 190.000 Euro zugeschlagen, den dritthöchsten Preis für ein Dürer-„Rhinocerus“. Im selben Jahr erzielte Christie’s mit 720.000 Dollar (rund 535.000 Euro) den bislang höchsten Hammerpreis für das Motiv und eine Dürer-Grafik überhaupt. Vor der Jahrtausendwende hatten noch vierstellige Beträge zum Erwerb genügt.

Dürers Nashorn galt fortan als ideales Vorbild. Man begegnet ihm in zahlreichen Varianten als Grafik wie auf Gemälden oder als Bronze. Und nicht zuletzt in Meissener Porzellan. Johann Gottlieb Kirchner modellierte es 1732 für die Menagerie Augusts des Starken im Japanischen Palais – und zwar in den für das Brennen höchst diffizielen Maßen von 109 mal 68 Zentimetern. Zwei weiße und ein mit Ölfarben dunkel bemaltes Exemplar sind davon in der Dresdner Porzellansammlung erhalten (und noch ein weißes in Sèvres). Die Nachfolger waren da weitaus bescheidener. Johann Joachim Kaendler schuf in den späten 1740er-Jahren ein etwa 17 Zentimeter großes Nashorn und ein weiteres mit einem Türken als Reiter von etwa 27 Zentimetern – 62.000 Euro brachte diese Plastik 2013 bei Metz in Heidelberg.

Kaendler hielt sich allerdings nicht an Dürers Vorbild. Denn inzwischen hatte „Jungfer Clara“ den Kontinent bereist. Es war das fünfte Exemplar von acht Nashörnern, die bis 1799 nach Europa kamen. Nach dem Tier, das den Papst nicht erreichte, war erst 1579 bis 1586 wieder eines in Madrid zu bestaunen. Hundert Jahre später kam das erste Nashorn nach London, 1739 das zweite. Beiden war nur ein kurzes Leben beschieden. Anders war das bei Clara, die 1739 in Assam geboren und nach dem Tod der Mutter in der Familie des Vertreters der Niederländischen Ostindischen Compagnie in Bengalen aufgezogen wurde. Deshalb war das Tier zahm und an Menschen gewöhnt. Als Claras Wachstum jedoch dem Familienanschluss Grenzen setzte, wurde sie an den Kapitän Douwe Mout van der Meer verkauft, der das Nashorn 1741 nach Amsterdam mitnahm. Hinfort ließ er die Seefahrt sein, um mit dem Tier bis 1758 kreuz und quer durch Europa zu ziehen. Die Reisewege lassen sich recht genau rekonstruieren, denn Van der Meer verstand es, seine Schaustellung in Szene zu setzen. Er ließ allenthalben Flugblätter mit dem Bild des Nashorns und ausführlichen Beschreibungen drucken, die bereits vor seiner Ankunft in der Stadt auf das Ereignis hinwiesen. Er verschwieg nicht, dass Potentaten wie Friedrich der Große, Sachsens August III., Franz I. und Maria Theresia oder Ludwig XV. (dem er Clara für 100.000 Écu verkaufen wollte, was dem König aber zu teuer war) das Tier in Augenschein genommen hatten. Und er bot Künstlern, Zeichnern wie Malern, die Gelegenheit, dem Dürer’schen Ideal-Porträt ein der Wirklichkeit entsprechendes Bildnis entgegenzusetzen.

In Bernhard Siegried Albinus’ anatomischem Hauptwerk „Tabulae sceleti et musculorum corporis humani“ aus dem Jahr 1747 ist das Rhinoceros „Clara“ neben einem menschlichen Skelett zu sehen – die Abbildung schuf der niederländische Künstler Jan Wandelaar (1690–1759). © Wikimedia Commons
In Bernhard Siegried Albinus’ anatomischem Hauptwerk „Tabulae sceleti et musculorum corporis humani“ aus dem Jahr 1747 ist das Rhinoceros „Clara“ neben einem menschlichen Skelett zu sehen – die Abbildung schuf der niederländische Künstler Jan Wandelaar (1690–1759). © Wikimedia Commons

Berühmt ist das eindrucksvolle, mit 3 mal 4,5 Metern lebensgroße Gemälde von Jean-Baptiste Oudry in Schwerin, das – nachdem es 150 Jahre eingerollt in einem Depot gelegen hatte – mithilfe der Getty-Stiftung restauriert und seit 2007 wieder ausgestellt werden konnte. Nicht minder bekannt sind die beiden Tafeln von Pietro Longhi (eine in der Ca’ Rezzonico, die andere in Londons National Gallery), die Clara 1751 während des Karnevals in Venedig zeigen. Allerdings ohne das Horn, das sie im Jahr zuvor in Rom verloren hatte und das nun ein Assistent herumzeigt. Seitdem konkurrieren in den Künsten, wenn es um ein Rhinozeros geht, Dürer und Clara. Das Barber Institute in Birmingham wird das in der Ausstellung „Miss Clara and the Celebrity Beast in Art 1500 – 1860“ vorführen (12. November 2021 bis 27. Februar 2022). Und auch das Rijksmuseum in Amsterdam plant vom September 2022 bis Januar 2023, Clara zu würdigen.

In Frankreich wurde die realistische Version bevorzugt. Das verraten die Pendulen „en rhinocèros“, die von bronzenen Nashörnern getragen werden, oft auf einem Musikautomaten als Podest. Sie standen unter anderem in den Räumen von Marie Antoinette in den Tuilerien. Von Jean-Joseph de Saint-Germain gefertigt, wurden sie 2015 bei Sotheby’s in London mit 350.000 Pfund, im vergangenen Jahr in der Pariser Niederlassung des Hauses mit 400.000 Euro bewertet. Auch George Stubbs hielt sich an das, was er sah, als er 1790/91 das dritte Nashorn, das nach London kam, malte. Aber damit ist das Repertoire „Das Rhinozeros und die Künste“ noch längst nicht erschöpft. Man kann ihm, beispielsweise in Florenz als Brunnenfigur begegnen, es auf Tapisserien wie auf Gläsern oder als Intarsie entdecken. Nashörner müssen Möbel tragen und Obelisken. Ein Kapitel für sich wären die kunstvoll geschnitzten Becher aus ihrem Horn, die angeblich Gifte neutralisieren – und damals wie heute hoch gehandelt werden. Und selbst die Verniedlichung als Nippes blieb ihnen nicht erspart. Nur in die Bilderwelt der Embleme und Allegorien haben es die Tiere nicht geschafft.

Raden Saleh Ben Jaggia (1814–1880), ein Prinz aus Java, der in Dresden als Maler Furore machte, hat um 1840 einen Kampf zwischen zwei Tigern und einem Nashorn imaginiert – der am 14. November 2014 bei Van Ham in Köln 440.000 Euro realisierte. © Van Ham, Köln
Raden Saleh Ben Jaggia (1814–1880), ein Prinz aus Java, der in Dresden als Maler Furore machte, hat um 1840 einen Kampf zwischen zwei Tigern und einem Nashorn imaginiert – der am 14. November 2014 bei Van Ham in Köln 440.000 Euro realisierte. © Van Ham, Köln

Dafür halten ihnen die Künstler die Treue. Raden Saleh Ben Jaggia, der Prinz aus Java, der in Dresden als Maler Furore machte, hat 1840 einen Kampf zwischen zwei Tigern und einem Nashorn imaginiert – der 2014 bei Van Ham in Köln 440.000 Euro realisierte. Paul Meyerheim schilderte 1881, in Holz gestochen, einen „Rhinozeros-Kampf im Berliner Zoo“, bei dem der Bulle dem Weibchen unvermittelt sein Horn in die Seite rammt (obwohl sich die Zoologen einig sind, dass das Nashorn sein Horn bei Kämpfen nicht als Waffe benutzt). Wilhelm Kuhnert porträtierte zwei Exemplare nach der Natur – das Bild spielte 1997 bei Christie’s New York 90.000 Dollar ein. Dalì liebte es, die Tiere vielfach zu variieren. Auch bei Warhol dürfen sie ihren Kopf für Siebdrucke hinhalten. Von Niki de Saint-Phalle kann man sie knallbunt als Siebdruck, Plastikfigur oder Brosche erwerben. Von François-Xavier Lalanne, der auf dem Grat zwischen Design und Kitsch balanciert, sind Nashörner von der mechanischen Miniatur bis zur Badewanne zu haben – für die 2019 bei Christie’s New York 3,6 Millionen Dollar fällig wurden. Johannes Brus platzierte Nashörner lebensgroß – mal liegend, mal stehend – an diversen Orten. Walton Ford schilderte das „Ende des Lissaboner Nashorns“ auf einem 2,5 mal 3,7 Meter großen Triptychon – das 2010 bei Phillips de Pury in New York für 850.000 Dollar wegging. Und bei Mel Ramos räkelt sich eine Nackte auf Dürers Rhinoceros – allerdings fand sich dafür 2020 bei Jeschke-Van Vliet kein Liebhaber. Immerhin erweist sich nicht zuletzt an diesen beiden Beispielen, dass das Nashorn, das gezeichnet, aber nicht gesehen wurde, noch in unseren Tagen unsterblich ist.

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