Sein Bestseller „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ hat Edmund de Waal berühmt gemacht. In seinem neuen Buch führt uns der Keramikkünstler ins Hôtel Camondo in Paris – und erneut in die Abgründe des 20. Jahrhunderts
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27.09.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 190
Sie haben sich in die umfangreichen Archivalien vertieft. Die Dokumente reichen von der Speisefolge beim Dinner bis zur Korrespondenz mit Kunsthändlern. Welcher Fund hat Sie besonders bewegt?
Der Brief von Proust! „Mein lieber Graf, Sie mögen sich nicht an mich erinnern … Wir haben einmal zusammen diniert. Es macht mich traurig zu hören, dass Ihr Sohn vermisst wird, und so sende ich Ihnen innige Grüße, Ihr Nachbar Proust.“ Geschrieben auf hellblauem Papier, und auf einmal ist es der Moment, indem man seine Post öffnet, und da kommt dieser Brief, von Proust.
Viele Figuren der Kulturgeschichte spielen in der Familie eine Rolle. Renoir hat Nissims Mutter, Irène Cahen d’Anvers, gemalt, als sie noch ein kleines Mädchen war.
Die Schwierigkeit, eine Geschichte zu erzählen, die sich nicht von einem Namen zum nächsten hangelt, habe ich mit meinen Briefen umgangen. Sie sind persönlich, können egal welche Länge haben, amüsiert oder befremdet sein oder auch liebevoll. Ich habe Briefe geschrieben, weil ich keine Prosa schreiben wollte. Renoir kann dann einfach zufällig auftauchen, es ist diese Art Buch.
Das Buch, mit dem Sie berühmt geworden sind, „Der Hase mit den Bernsteinaugen“, ist mittlerweile in dreißig Sprachen übersetzt worden – und wird dank der Gratisbuchinitiative ab 11. November 10 0000-mal in Wien verschenkt.
Es ist einfach unglaublich und bewegt mich sehr. Fantastisch. Dass meine kleine Familiengeschichte nach zehn, elf Jahren solch ein Nachleben in Wien haben würde!
Ihre Netsuke-Sammlung, die das Buch als ein roter Faden durchzieht, ist in Wien zu sehen.
Ein Teil der Sammlung ist dort als Dauerleihgabe im Jüdischen Museum. Siebzig der Netsuke-Figuren haben wir verkauft, um die Flüchtlingshilfe zu unterstützen. Es ist unfassbar wichtig, Geschichten zu erzählen – und anzuhören – über Flucht und Exil. Man muss das eigene Mitgefühl kanalisieren.
Sie sind eingeladen worden, Ihre eigene Kunst im Musée Camondo auszustellen. Was haben Sie geplant?
Zuerst muss ich sagen, was für eine unglaubliche, aber auch komplizierte Ehre das ist. Hier hat noch keine Ausstellung stattgefunden, und Moïse hat deutlich gemacht, dass er nichts dergleichen in seinem Haus will. Ich versuche also, Dinge zu schaffen, die über die Familie sprechen. Ich habe Briefe auf sehr dünne Teile Porzellan geschrieben. Sie sind wie Papier und durchscheinend. Manche von ihnen finden ihren Weg auf seinen Schreibtisch oder in die Bibliothek. Hier und da gibt es Stücke, mit denen ich mich an ihn oder seine Kinder richte. Für das Porzellankabinett habe ich Schüsseln mit Scherben gefüllt. Für den Hof fertigte ich Steinbänke aus sehr schönem Stein, die alle mit Kintsugi von Gebrochenheit erzählen, wo die Leute sich hinsetzen und nachdenken können. Und auf dem Dachboden, wo ich recherchiert habe, werden ein paar meiner Objekte in Schränken versteckt sein, die man überhaupt nicht sehen kann. Man weiß lediglich, dass sie da sind. Eigentlich hoffe ich, dass die Leute bei ihrem Besuch kaum etwas von mir sehen.
Kann man den kreativen Prozess Ihrer Arbeit als Künstler mit der des Sammlers vergleichen?
Das ist für mich ein Prozess. Wenn wir zusammen durch mein Atelier laufen würden, dann sähen Sie Gefäße und Marmor, Stein und Gold, Vitrinen, Regale und Holzstücke. Wie Ebbe und Flut kommen die Dinge zusammen, damit man sieht, ob sie passen oder nicht, bis sie da sind, wo sie mehr als die Summe ihrer Teile werden. Wenn man durch ein Haus wie das von Camondo geht, merkt man, dass es hier nicht nur um das Dekorieren eines Interieurs geht. Sie spüren die sehr bewusste Kreation einer Atmosphäre, die unterschiedlichste Elemente zum Singen bringt. Diese Kreativität ist sehr gut vergleichbar zu dem, was ich mache, wenn ich eine Installation zusammenstelle. Deshalb mag ich Camondo so! (lacht) Ich spüre eine Verwandtschaft.
Dieses Interview ist (auf Englisch) auch als Podcast abrufbar.
„Edmund de Waal. Lettres à Camondo“,
Musée Nissim de Camondo, Paris
7. Oktober bis 15. Mai 2022
„Camondo. Eine Familiengeschichte in Briefen“
erscheint Ende September im Paul Zsolnay Verlag.