Aus dem Archiv

Ein Amerikaner in Berlin

Vor 150 Jahren wurde Lyonel Feininger in New York geboren. Er zog jung nach Deutschland und wurde in seiner Wahlheimat Berlin zu einem der bedeutendsten Maler der Moderne

Von Andreas Platthaus
11.06.2021
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 184

Julia Berg begann im Herbst 1905 ein Kunststudium in Weimar, und Feininger lernte bei seinen Besuchen eine Region kennen, dieihm einige der wichtigsten Motive seines Werks liefern sollte; besonders bekannt ist der über fast drei Jahrzehnte entstandene Zyklus mit Ansichten der Dorfkirche von Gelmeroda. Doch die ersten Zeugnisse seiner Begeisterung für das ländliche Thüringen veröffentlichte Feininger in den Vereinigten Staaten, als er 1906/07 im Auftrag der Tageszeitung „Chicago Tribune“ zwei Comicstrips zeichnete, die beide in Europa spielten: „The Kin-der-Kids“ und „Wee Willie Winkie’s World“. Sie bleiben damals beim amerikanischen Publikum erfolglos, aber heute gelten sie nicht nur als Meilensteine der Comic-Geschichte, sondern auch als künstlerische Arbeiten Feiningers, die bereits alle später für ihn charakteristischen Elemente aufwiesen: die Liebe zum dörflichen, in den Bauten noch mittelalterlich wirkenden Deutschland, zur Ostseeküste, zu Eisenbahnen und Schiffen. Selbst das ästhetische Prinzip der „Kristallisation“ und des „Prismaismus“ (wie Feininger selbst seinen Stil als Maler beschreiben sollte) findet sich in seinen Comics vorweggenommen. Noch wichtiger aber war, dass ihm das hohe Honorar der „Chicago Tribune“ den bereits erwähnten zweijährigen Aufenthalt in Paris gestattete. Karikieren musste er vorerst nicht mehr, von Julia Berg, die ihn begleitete, ermutigt, verlegte er sich ganz auf die Malerei. In Paris kam Ende 1906 der erste Sohn des Paars zur Welt: Andreas Feininger, der ein berühmter Fotograf werden sollte. Er war ein uneheliches Kind, seine Eltern heirateten erst 1908, kurz bevor sie wieder nach Berlin zurückkehrten. Dort wurden dann die beiden weiteren Söhne, Laurence und Theodor Lux, geboren. Julia Feininger hatte schon in Paris ihre eigenen künstlerischen Ambitionen zugunsten von Lyonels Arbeit aufgegeben und sollte in den fünfzig Jahren ihrer Partnerschaft zur unentbehrlichen Organisatorin von dessen Schaffen werden. Dass sie ihm überdies familiär den Rücken freizuhalten hatte, verstand sich für ihren Mann von selbst.

Aus Abneigung gegen den Trubel der Großstadt hatte Feininger ein neues Domizil in Zehlendorf gesucht, einem damals noch nicht eingemeindeten Vorort im Südwesten von Berlin. Die dort geringeren Mietkosten und die finanzielle Unterstützung der wohlhabenden Schwiegereltern halfen ihm, das Auskommen für die fünfköpfige Familie zu bestreiten. Im Frühling 1910 gab er das Karikieren auf und verlegte sich ganz auf eine Laufbahn als freier Künstler. In der Berliner Secession stellte Feininger zum ersten Mal ein Gemälde aus, doch weitaus besser als seine Malerei verkaufte sich die Grafik, weil sie an seine Popularität als Illustrator anknüpfte. In der im November 1910 stattfindenden Herbstausstellung der Secession, die den grafischen Künsten vorbehalten war, stellte er mehr als vierzig Arbeiten aus. Die Berliner Kunstkritik ließ indes kein gutes Haar an Feininger. Man rückte ihn in die Nähe von Jahrmarktsensationen, wenn vom „Jonglieren von Möglichkeiten“ oder dem „Schock seiner fantastischen Grotesken“ die Rede war, und ein Kritiker warnte seine Leser sogar: „Man darf nicht zu Feininger gehen.“ Im Rückblick betrachtete der Künstler die ersten drei Jahre nach der Rückkehr aus Frankreich als „unsere am wenigsten glückliche Zeit“.

Abhilfe schuf abermals Paris, und diesmal genügten Feininger zwei Wochen dort, im Mai 1911. Er war mit sechs Bildern im Salon des Artistes Indépendants vertreten, fand die Anerkennung des im selben Raum ausstellenden Henri Matisse und lernte vor allem den Kubismus kennen, der seine ganze Auffassung von Malerei veränderte. Wieder in Berlin, wurde er durch die Gewalt der neuen Eindrücke zwar erst einmal gehemmt – gerade einmal fünf Bilder sind aus dem Jahr 1911 überliefert –, doch im Folgejahr malte Feininger sich frei, und es wurde mit einunddreißig Gemälden eines der produktivsten seines Lebens. 1912 wird erstmals das auf der Leinwand sichtbar, was ihn berühmt machen sollte: „Brücke 0“, „Benz 1“ oder „Teltow 1“ führen die Ver- und Umarbeitung des kubistischen Einflusses vor. Feininger verlängert die Konturen von Gebäuden oder Naturformationen über diese hinaus, verwandelt die dadurch entstandenen ungegenständlichen Räume durch Farbabschattungen in imaginäre Bauelemente und baut damit seine Himmel gleichsam architektonisch auf, sodass die ganze Welt einem konstruktiven Prinzip gehorcht, das ganz das des Künstlers ist.

Mit diesen Bildern fand er die Aufmerksamkeit von Herwarth Walden, der in seiner „Sturm“-Galerie die internationale Avantgarde propagierte. Walden war es auch, der Feininger im Ersten Weltkrieg dessen erste große Einzelausstellung ausrichtete: 1917, als die Vereinigten Staaten schon in den Krieg gegen Deutschland eingetreten waren und Feininger deshalb einer täglichen Meldepflicht unterlag. Die empfand er als demütigend, zumal er sich weitgehend der Sache seines Gastlandes verschrieben hatte. Feininger gebärdete sich geradezu deutschnational. Im Januar 1915, als der anfängliche Vormarsch der Truppen des Kaiserreichs in Frankreich längst gestoppt worden und die Auseinandersetzung dort mehr und mehr in den dann vier Jahre anhaltenden grausamen Stellungskrieg übergegangen war, schrieb er an den befreundeten österreichischen Künstler Alfred Kubin: „Die Ereignisse, draussen auf den Schlachtfronten, denen ich mit leidenschaftlichem Interesse gefolgt bin, haben sich zu einer sicheren Bürgschaft des endgiltigen Sieges für Deutschland crystallisiert. Es ist ungeheuer, was bereits geleistet, erreicht und gesichert worden. Gesichert, Kubin! Nun aber weiter, zum zwingenden, endgiltigenSiege! Das wird ja noch eine Zeitlang dauern. Aber: Euch Deutsche, und ich kann sagen wir Deutsche, kriegt keine Macht der Menschen unter! Deutschland, das in den 27 Jahren, die ich hier lebe, sich seit 1887 so ungeheuer entwickelt und emporgearbeitet hat, musste wohl die Weihe seiner Weltstellung durch diesen unerhörtesten alle Kriege erhalten; die Bestätigung seiner Grösse ist hiermit die ungeheuerste die die Welt jemals erfuhr.“ Bemerkenswert ist nicht nur, dass sich Feininger umstandslos in die deutsche Schicksalsgemeinschaft einreiht, sondern auch, dass er mitten im Unterstreichungsgewitter dieses Briefs ganz beiläufig das Wort „crystallisiert“ gebraucht – die damals für ihn zentrale Kategorie seines künstlerischen Selbstverständnisses. Auf diese Weise wird das deutsche Handeln im Krieg gleichgesetzt mit dem eigenen Schaffen, und das war eine noch stärkere Identifikation mit seinem Gastland als die Formulierung „wir Deutsche“.

Entsprechend desillusionierend für ihn war dann der Kriegsausgang mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918, der einer Niederlage des Kaiserreichs gleichkam, und dem Abschluss des Versailler Vertrags im Juni 1919, in dem Feininger wie die meisten Deutschen eine schreiende Ungerechtigkeit sah: „Wenn es auch keine menschliche Gerechtigkeit gibt – eine logische gibt’s doch; aber ich fürchte, auch diese weist nur auf künftige Kriege und Unglück unter den Menschen, ohne Ende.“ Er erlebte den innenpolitischen Streit um die Annahme des Vertrags hautnah mit, denn im März 1919 war er als Meister ans von Walter Gropius gegründete Bauhaus in Weimar berufen worden, und in derselben Stadt tagte damals das Parlament der neuen Republik, weil die Lage im revolutionserschütterten Berlin zu unsicher erschien.

Auch Lyonel Feininger schätzte die relative Ruhe in der thüringischen Provinz, doch die öffentlichen Querelen um das bildungs­reformerische Konzept des Bauhauses stießen ihn ab, denn er wollte vor allem ungestört seine Kunst weiterentwickeln. Als das Bauhaus im Jahr 1925 aus Weimar weggeekelt wurde und nach Dessau umzog, folgte Feininger zwar, erwirkte allerdings eine künftige Freistellung von sämtlichen Lehrverpflichtungen. Gropius willigte ein, weil ihm der Verbleib Feiningers auf dessen Meisterposten wichtig war fürs Image des Bauhauses; kaum ein anderer Künstler wurde während der Zwanzigerjahre so viel von deutschen Museen angekauft und ausgestellt wie der Amerikaner.

Den Höhepunkt seiner Karriere erlebte er in Berlin mit der Retrospektive, die ihm die Nationalgalerie 1931 zum sechzigsten Geburtstag ausrichtete. Mehr als 140 Bilder wurden im Kronprinzen­palais gezeigt, und danach ging die Schau noch ein ganzes Jahr lang auf Tournee durch weitere deutsche Städte. Umso extremer war der Einschnitt durch den Beginn von Hitlers Herrschaft. Feiningers Dessauer Wohnung wurde im März 1933 von der Gestapo durchsucht, die jüdischen Verwandten seiner Frau Julia durch Boykottaktionen schikaniert, und kaum noch ein Museum riskierte es, die Bilder des nun als „entartet“ geschmähten Künstlers zu zeigen. Trotzdem hatte Feininger für einen kurzen Moment die Hoffnung, so etwas wie ein Staatskünstler des „Dritten Reichs“ werden zu können, weil sein Freund Alois Schardt, der Direktor des Museums Moritzburg in Halle, im Juni 1933 von den Nationalsozialisten zum neuen Chef der Berliner Nationalgalerie ernannt wurde. Prompt zogen auch die Feiningers wieder nach Berlin, aber die Berufung dieses dezidierten Sachwalters der künstlerischen Moderne – zu Schardts Favoriten zählten neben Feininger auch Paul Klee, Oskar Kokoschka, Wilhelm Lehmbruck, August Macke und Ernst Barlach, alle künftige „Entartete“ – erwies sich schnell als wechselseitiger Irrtum; dem neuen Direktor wurde schon im November 1933 wieder gekündigt.

In Berlin hatten die Feiningers eine Wohnung in der Neubausiedlung Siemensstadt bezogen, wieder weitab vom Zentrum. Der von den Nazis geschasste ehemalige Reichskunstwart Edwin Redslob erinnerte sich an gemeinsame abendliche Streifzüge mit Feininger: „Wir verabredeten uns im ersten Jahr der Nazizeit, wenn im Hinterhof der Tauentzienstraße ein dort verstecktes Kino Filme zeigte, die zu sehen sich lohnte.“ Doch immer mehr Weggefährten verließen das Land, und die antisemitische Stimmung wuchs auch in der unmittelbaren Umgebung der Feiningers, etwa im Ostseebadeort Deep, wo sie seit einem Dutzend Jahren ihre Sommerferien verbrachten. 1935 empfing sie dort ein Transparent: „Juden sind hier unerwünscht“. Fortan war es für Julia Feininger klar, dass es keine Zukunft mehr in Deutschland gab. Die drei Söhne des Ehepaars setzten sich ins Ausland ab, Lyonel Feininger konnte aber erst durch einen dreimonatigen „Probeaufenthalt“ in den Vereinigten Staaten überzeugt werden. Für den Sommer 1936 hatte ihn das kalifornische Mills College als Gastdozent engagiert, und Julia Feininger blühte in der freiheitlichen Atmosphäre Amerikas auf. Ihr Entsetzen war groß, als Feininger trotzdem mit ihr nach Berlin zurückkehrte, weil er Angst hatte, in seinem Heimatland nicht im selben Maße künstlerisch anerkannt zu werden wie in Deutschland. Doch der Kontrast zwischen der NS-Diktatur und den Vereinigten Staaten war zu groß; als die Einladung ans Mills College im Folgejahr erneuert wurde, entschloss Feininger sich zur endgültigen Übersiedelung. Damit endeten seine fünfzigjährige Zeit in Europa und die insgesamt mehr als dreißig Jahre in und um Berlin.

Der schwerste Schicksalsschlag traf Lyonel Feininger acht Jahre, nachdem er der Stadt den Rücken gekehrt hatte: Nach Kriegsende erfuhr er von seinen beiden in Deutschland gebliebenen Töchtern, dass deren Mutter, seine geschiedene erste Frau, am 10. Januar 1944 die Aufforderung erhalten hatte, sich als Jüdin am Anhalter Bahnhof einzufinden, wo die Deportationszüge nach Theresienstadt losfuhren. Über den weiteren Lebensweg von Clara Feininger ist lediglich dokumentiert, dass sie am 23. Oktober 1944 von Theresienstadt aus ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht wurde. Wann und unter welchen Umständen sie dort umkam, ist unbekannt. Lyonel Feininger starb am 13. Januar 1956 in New York. Er hatte Berlin, seine „einzigwahre Heimatstadt“ nie wiedergesehen, die Erinnerung an sie aber immer wieder in Briefen an deutsche Freunde heraufbeschworen. Er malte sie in Worten.

Service

BUCHTIPP

Lyonel Feininger. Porträt eines Lebens
von Andreas Platthaus
Rowohlt Berlin, 2021, 28 Euro

AUSSTELLUNGEN

Lyonel Feininger – Retrospektive

Schirn Kunsthalle, Frankfurt

bis 18. Februar 2024

schirn.de

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