In einem Dorf in der Uckermark schafft Inge Mahn Objekte voller Witz und Seitenhiebe. Nach Jahren des Rückzugs erfährt ihr Werk neue Aufmerksamkeit
Von
29.03.2021
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 183
Zwei Tonnen türmen sich zum Hochstand, eine schmale Leiter führt auf sein kleines Plateau, das Dach schwebt an dünnen Stäben: Weiß überhaupt noch jemand unter dreißig, was für ein Ding aus der realen Welt sich Inge Mahn zum Vorbild für ihre „Polizeikanzel“ genommen hat? 1973, als die Arbeit aus Gips über einem Eisenskelett entstand, war es Teil des Straßenbildes. Kam zum Einsatz, wenn an Kreuzungen die Ampeln ausgefallen waren. Von hier aus regelten Verkehrspolizisten das automobile Chaos, die rot-weiß gestreiften Tonnen aus Stahl schützten und erhoben sie sichtbar über die Straße.
Im Laufe der Zeit wurden diese Ein-Mann-Dosenhäuschen aussortiert, nicht aber das originalgroße Pendant der Künstlerin. 2015 stand es in den Berliner Räumen der Galerie Max Hetzler: fahlweiß, die Oberflächen unregelmäßig gearbeitet, ein Abbild der Wirklichkeit und zugleich autonomes Objekt. Auch wer seine Funktion nicht (er)kannte, ahnte bald, worum es Inge Mahn im Kern ihrer plastischen Arbeiten geht: Vorbild ist seit einem halben Jahrhundert die Wirklichkeit, die weit grotesker als jede Kunst sein kann.
Verlangte nicht allein die schräge Architektur jener ausgedienten Kanzel nach einem Werk, das an sie erinnert? Bei Mahn bietet sie keinen Schutz mehr, sondern wirkt selbst schutzbedürftig – wie ein Wesen mit Gefühlen und Eigenschaften. Diese Transformation vollzieht sich in all ihren Objekten und Installationen, ganz gleich, ob die Künstlerin Hundehütten, rotierende Tische oder wie im Jahr 1970 zum Abschluss des Studiums ein Klassenzimmer mit zehn Bänken aus Gips baut, deren Maße leicht unterproportional ausgefallen sind. So hat sie es als hochgewachsene Schülerin einst selbst empfunden – als unbehaglich, weil das Mobiliar in der Schule für sie stets zu klein ausfiel.
Bis heute nimmt Inge Mahn Gegenstände des täglichen Lebens nicht als selbstverständlich hin, nur weil sie einen seit der Kindheit umgeben. Stattdessen werden sie aus der Distanz gesehen, mit forschender Ironie nach- oder auch neu geformt; ganz klar wird das nicht in der Galerie Hetzler, wo in diesem April wieder eine große Soloschau zu sehen ist. „Ich will immer etwas wissen“, postuliert Mahn mit ihren inzwischen 77 Jahren. Und nennt ihr Hirschgeweih – aus Gips natürlich – über dem Eingang eine „Einstimmung auf die Spießbürgerlichkeit“, die in der großbürgerlichen Altbauwohnung und heutigen Galerie einst geherrscht haben muss.
Gleich im ersten Raum stapeln sich Stühle zum kunstvoll kippeligen Turm am seidenen Faden. Der raue Gips macht sie seltsam matt, saugt das Licht auf – was die Arbeiten wie Phantome oder Platzhalter in einer ansonsten bunten Welt aussehen lässt. Von der Decke baumelt ein Tannenkranz, schon ziemlich trocken, die Nadeln rieseln. Irgendwann wird er nackt sein, Kerzen hat er ohnehin nicht. Bloß eine dekorative rote Schleife, deren eines Ende sich um den obersten Stuhl windet. Der Kranz hing monatelang im Atelier der Künstlerin in Groß Fredenwalde. Hier wurde er präpariert, was bei Inge Mahn heißt, dass sie ihn erst einmal aufbewahrt und immer mal wieder anschaut, um dann zu entscheiden, was für eine Arbeit daraus entstehen kann. Der Kranz ist ein neues Element, die Stühle kennt man aus anderen Zusammenhängen. Genau wie die Parkbänke mit den sie flankierenden Abfalleimern im nächsten Zimmer. Bei Hetzler versperren vier solcher Paare den Weg durch die prächtigen Flügeltüren und zwingen einen zum Umweg. Ihre Bänke hat die Künstlerin zum Rechteck gruppiert, es wirkt wie eine Falle: Wer hier imaginär Platz nimmt, starrt unverwandt sein Gegenüber an.
Ein klaustrophobischer, aber auch komischer Moment – typisch für Inge Mahn, die stets auf mehreren Ebenen mit dem Betrachter kommuniziert. Obwohl sie ihre Ausstellungen gern mit Werken bestückt, die bis in die Siebzigerjahre zurückreichen, stellt sich nirgends ein Eindruck von Retrospektive ein. Die Künstlerin geht situativ vor, der Kontext ist stets ein anderer, die Interpretationen ändern sich. Manchmal schon mit dem nächsten Schritt. Dann sieht man einen Paravent, hinter dem man sich verstecken könnte. Doch der Ort ist bereits besetzt: Eine mächtige Wölbung ragt aus der Paravent-Mitte und erinnert unmissverständlich an den Bauch einer Schwangeren.
Das Ungeahnte, Überraschende begleitet einen bis in den letzten Galerieraum, wo sich der Stuck von der Decke gelöst zu haben scheint. An einer Stelle hält er noch, hängt aber sonst wie eine matte Arabeske durch und landet schließlich auf dem Boden. Als hätte er schlicht keine Lust mehr gehabt, den Ort noch länger zu verzieren. Ein stiller Protest als Zeichen von Widerständigkeit. Auch das passt zur Künstlerin, die an der Düsseldorfer Akademie erst einmal mit Schweigen auf die konservative Ausbildung reagierte.
Mahn, 1943 in Oberschlesien geboren, kam über Umwege an den Rhein und studierte bei Joseph Beuys. Nicht sofort. Anfangs lernte sie klassische Bildhauerei. Gips war ein billiges Material, mit dem sie üben sollte, um ihre Figuren später in Bronze zu gießen. All das passte der selbstbewussten Studentin nicht, die sich mit Blick auf die Körperabbildung fragte, weshalb in der künstlerischen Arbeit etwas „umgesetzt werden sollte, wenn die direkte Setzung doch viel spannender ist“. Sie blieb beim Gips und wechselte in die Klasse von Beuys. Weil der sich für das Leben interessierte, aber auch aus einer strategischen Idee heraus: „Beuys ließ jeden zu, das gefiel mir. Gleichzeitig hatte er so viele Studenten, dass ich in Ruhe arbeiten konnte.“
Es war ihr dann aber doch zu viel los. Mahn suchte nach einem ruhigeren Ort in der Akademie, fand ihn auf dem Gang und baute sich dort ein Atelier. Ihr „Nest“ bestand aus Gips, Holz und Eisen – eine Art Ausstülpung der Wand mit zwei schmalen Schlitzen. Drinnen war es hell, weil eines der Flurfenster in den Einbau integriert war. Ein Refugium, aus dem heraus sie beobachtete, was an der Akademie geschah. Als 1969 der Rektor mithilfe der Polizei die alternative „Lidl-Akademie“ von Jörg Immendorff und Chris Reinecke zu verhindern suchte, stellte die Künstlerin große „Wachhäuser“ aus Gips auf. Es waren minimalistische Gebilde, die den protestierenden Studenten als Unterstände dienten. Gleichzeitig erinnerten sie an die Häuschen der DDR-Grenzposten und zogen einen Vergleich zwischen dem repressiven politischen System und den Maßnahmen der Akademieverwaltung. Auch die „Schulklasse“, die 1970 für die Jahresausstellung der Hochschule entstand, entpuppt sich als Rückschau auf Mahns Kindheit und thematisiert zugleich ihre Kritik an den autoritären akademischen Strukturen.
Diese subjektiv aufgeladene Installation reizte Harald Szeemann. Der legendäre Kurator lud Mahn 1972 zur Documenta 5 ein, die „Schulklasse“ stellte er ins Fridericianum als Teil der Sektion „Individuelle Mythologien“. Später bat er die Künstlerin zur Großausstellung „Zeitlos“ im Hamburger Bahnhof, mit der die Nutzung des Gebäudes als Ausstellungsort begann. Beide Teilnahmen hätten ein Schub für Mahns Karriere sein können, zumal die „Schulklasse“ bald nach Washington D.C. in die Sammlung des Hirshhorn Museum ging. Dass es dann aber doch wieder stiller um sie wurde und Mahn heute weit weniger bekannt ist als andere Studenten der Beuys-Klasse wie Jörg Immendorff, Blinky Palermo oder Imi Knoebel, hat mit ihr selbst zu tun. Die Frage, welche nächste, internationale Ausstellung ihre Bekanntheit vergrößert, interessiert sie weit weniger als das, was in ihrem jetzigen „Nest“ vor sich geht. Die Künstlerin ist in die Uckermark gezogen, lange bevor halb Berlin die hügelige Idylle als Großstadtflucht für sich entdeckte. Das Foto eines alten Bauernhauses in Groß Fredenwalde gab vor knapp 25 Jahren den Ausschlag. Es war zu verkaufen, Mahn fuhr hin, und wer nun glaubt, sie habe ihre romantische Ader fürs Ländliche entdeckt, dem antwortet sie in ihrer unnachahmlichen, warm grundierten Trockenheit: „Ich komme vom Land, mir ist das vertraut.“
70 Kilometer vor den Toren der Metropole hat sie Wurzeln geschlagen. Trotz eines feinen Fabrikateliers in Kreuzberg und obwohl sie nach ihrer Lehrtätigkeit in Stuttgart bis 2009 auch als Professorin für Bildhauerei an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee tätig war. Mahn meldete ihren Wohnsitz um und demonstrierte so den Ernst ihrer Entscheidung. Wie sehr sie Groß Fredenwalde mit seinen etwas mehr als 100 Einwohnern verbunden ist, lässt sich an ihrem Engagement ablesen: Es gibt ein Stallmuseum und eine Tauschbörse. Beides ist in den ehemaligen Schweineställen im Dorfkern untergekommen. Der rote Klinkerbau mit Holztüren, ein architektonisches Denkmal aus dem 19. Jahrhundert, drohte zu verfallen und wurde von Mahn zusammen mit der Dorfgemeinschaft wiederaufgebaut.
Seit 2011 finden hier Ausstellungen statt, unter anderem aus dem Nachlass von Klaus Kehrwald oder mit Hans-Peter Feldmann, der in seinem Werk bereits existierende Genremalerei mit Urlaubsfotografien und Bildern aus Zeitschriften kombiniert. Ein idealer Kandidat für das Stallmuseum, in dem Inge Mahn vor allem eines nicht will: anderen vorschreiben, was sie unter Kunst zu verstehen haben. Dass Feldmann in seinen Collagen dem zwischenmenschlichen Gefüge auf die Spur zu kommen sucht, verbindet ihn nicht nur mit ihren eigenen, nach wie vor von Beuys geprägten Arbeiten. Er macht auch klar, wie breit sich künstlerisches Tun entfalten kann. Daraus resultieren andere historische oder auch heimatkundliche Projekte, für die die Groß Fredenwalder bereits Objekte aus ihren eigenen Häusern in das Stallmuseum getragen haben. Genau wie in die Tauschbörse nebenan, die Anwohnern wie Gästen offensteht: Der eine bringt, was er nicht mehr braucht, der andere nimmt mit, was ihm nützlich erscheint. Vom Krimi über einen Kerzenständer bis zum Skistiefel.
Gegenüber thront das ehemalige Gemeindehaus, für das der Ort keine Verwendung mehr hatte. Also übernahm Inge Mahn, richtete sich ein, machte einen Teil zu ihrem beheizbaren „Winterstudio“ und baute den anderen zu Gästewohnungen aus, die sich jedoch nicht mieten lassen. Nur wer etwas für die Gemeinde tut, wie vergangenes Jahr ein Pulk von Studenten aus Dessau, die die Künstlerin dank eines Stipendiums einladen konnte, darf übernachten. Im Atelier steht „Rundum“, ein kinetisches Objekt von 2005, das zuletzt im K21 der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf zu sehen war, wo Mahn im Jahr 2017 eine Ausstellung hatte. Nun stellt sie „Rundum“ an: Eine Glühbirne leuchtet auf, die runde Holzplatte auf dem Boden dreht sich mit einem schleifenden Geräusch – und mit ihr alles, was die Künstlerin am selbst gebauten Gestänge ihres Karussells arrangiert hat. Ein brauner Karton, leere Weingläser, ein am Band schwingender Kristall, der die Gläser nach dem Zufallsprinzip trifft und zum Klingen bringt. Ein zartrosa T-Shirt als seltener Farbfleck im weißen Werk der Künstlerin.
Das Leben mit den eigenen Skulpturen setzt sich am Ortseingang fort. Hier steht eine hölzerne Scheune. Mahn hat daraus – selbstverständlich auch hier nach sorgsamer Restaurierung – das I. M. Museum gemacht. Einen Wind und Wetter ausgesetzten Ort, an dem man alten Schätzen begegnet. Etwa ihrem großen „Vogelnest“ aus den Siebzigerjahren. Damals hing es in Kopenhagen in einer Ausstellung der Kunsthalle Charlottenborg. In Groß Fredenwalde konkurriert es nun mit den filigranen Nestern der Wespen und Hornissen, die die Künstlerin ganz entspannt neben ihren Arbeiten werkeln lässt. Der „Glockenturm“, ebenfalls ein Frühwerk, wurde ihr von einem Museum zurückgegeben, weil dieses das hohe Objekt aus Gips und Maschendraht nicht adäquat lagern konnte. „Die Kühle und Feuchtigkeit in der Scheune sind perfekt“, meint Mahn und bringt auch hier eine ihrer Arbeiten zum Laufen. Einen hohen, dennoch mickrig gewachsenen Tannenbaum voller Weihnachtskugeln, die sich zu drehen beginnen und jeden Moment von den dürren Ästen zu fliegen drohen. Eine kleine Rebellion gegen die Welt der bürgerlichen Rituale. Man merkt: Es würde Inge Mahn jetzt freuen, wenn eine der hauchdünnen Kugeln am Boden zerschellte.
Im Keller der Scheune rattert ein Tisch, in der darauf befindlichen Blechschüssel drehen sich scheppernd Hülsenfrüchte. Die Installation „Erbsenzählen“, meint die Künstlerin, habe ihren endgültigen Platz gefunden. Genau wie die leeren Klappaltäre an den Wänden, die brüchig geworden sind und nicht mehr umziehen sollen. Im nahen, großzügig verglasten „Sommeratelier“, das den Blick in die Landschaft erlaubt, liegen noch ein paar Tannennadeln. Hier hing der Adventskranz bis zu seinem Auftritt in der Galerie Hetzler. Und auch wenn er mit anderen Arbeiten für die Ausstellung gen Berlin gereist ist, könnte man bei all der Inge-Mahn-Präsenz meinen, sie habe das Dorf in ihrer Hand. Tatsächlich ist es andersherum: Der Ort wirkt auf die Künstlerin, die wie stets mit Interventionen reagiert. Im sozialen statt im rein plastischen Raum. So hat sie Groß Fredenwalde für die Kunst geöffnet – und für die Menschen reaktiviert.