Dirk Boll

„Wir alle wollen das direkte Kunsterlebnis“

Dirk Boll vom Auktionshaus Christie’s hat ein Buch über heutige und historische Krisen geschrieben. Wir sprachen mit ihm über den Vormarsch des Digitalen, den Geruch eines Kunstwerks und die Zukunft der Märkte

Von Felix von Boehm
14.01.2021

Mitten im ersten Lockdown beschließt Dirk Boll, President für Europa, UK, Middle-East, Russia und India beim renommierten Auktionshaus Christie’s in London, ein Buch über seine Gegenwart zu schreiben: einen Kunstmarkt im Umbruch. Und über vergangene Krisen des Kunstmarktes und was sich aus ihnen für die Zukunft ablesen lassen könnte. Wir haben mit Dirk Boll über sein Buch „Was ist diesmal anders?“ und die Potenziale eines digitalen Kunstmarkts gesprochen.

Soeben ist Ihr Buch „Was ist diesmal anders?“ zu vergangenen Krisen und der gegenwärtigen Situation am Kunstmarkt erschienen. Warum ist das Jahr 2020 in Ihren Augen ein guter Moment, um Bilanz zu ziehen?

Die Ereignisse des Jahres 2020 waren natürlich derart krisenhaft, dass sich die Frage nach dem „Warum jetzt?“ eigentlich selbst beantwortet. Die Krise, die wir alle durchlitten und durchlebt haben, war für mich der Ausgangspunkt, historische Krisen des Kunstmarkts noch einmal in den Blick zu nehmen. Auch um zu überprüfen, wie man damals reagiert hat, und wie die Märkte wiederum auf diese Reaktion reagiert haben. Dieser Vergleich bot im kompletten Lockdown in den Monaten März und April in London für mich nicht nur die Möglichkeit, die gegenwärtige Krise auch emotional zu verarbeiten, sondern auch eine Strategie innerhalb unseres Unternehmens zu entwickeln, wie wir uns in der zweiten Jahreshälfte verhalten könnten.

Corona wurde ja immer wieder, in verschiedensten Branchen, als „Brandbeschleuniger“ bezeichnet. Als Katalysator, der Prozesse, die ohnehin schon im Gange sind, noch einmal massiv beschleunigt. Welche Prozesse sind das aus Ihrer Sicht ganz konkret im Kunstmarkt?

Zum einen sind dies gesamtgesellschaftliche Prozesse, die im vergangenen Jahr wie unter einem Brennglas an Bedeutung gewonnen haben: die Frage nach Rassismus in Strukturen, die Frage nach Geschlechtergerechtigkeit, die Frage nach dem ökologischen Fußabdruck – alles brennende Fragen, die im vergangenen Jahr durch politische und gesellschaftliche Veränderungen an Bedeutung gewonnen haben und von allen Industrien gleichermaßen diskutiert wurden. Diese Fragestellungen sind natürlich auch zu uns gekommen, in einem Maße, in dem man es vorher nicht gesehen hat, und das ist absolut positiv.

Gleichzeitig ist durch den Lockdown und den Wegfall der großen Messen, aber auch anderer Veranstaltungen die Digitalisierung in einem noch nie dagewesenem Maße in den Kunstmarkt vorgedrungen. Das ist ein Prozess, der vor rund 20 Jahren begonnen und sich in unserer Welt der Kunst eigentlich bis dato nicht wirklich etabliert hatte. Natürlich gab es auch vor 2020 schon Online-only-Auktionen und Plattformen, über die man im Internet Kunst kaufen konnte. Aber im Unterschied zu anderen Industrien, wie beispielsweise dem Buchhandel oder dem Musikvertrieb, hatte der Kunstmarkt noch nicht wirklich den Vorteil digitaler Distribution nutzen können oder nutzen wollen. Dazu waren wir im vergangenen Jahr aber regelrecht gezwungen. Da war es sehr interessant zu sehen, dass die Öffentlichkeit der Kunstmärkte eigentlich sehr viel bereiter für diese Kanäle ist, als wir das immer gedacht haben.

Warum hat der Kunstmarkt sich so lange so schwer getan mit der Digitalisierung? Liegt das nicht ein wenig in der Natur der Dinge, die dort gehandelt werden, nämlich primär non-digitale Gegenstände mit Unikatcharakter?

Mit Sicherheit! Der Kunstmarkt dreht sich um Kunst und um deren private Rezeption. Die Frage ist: Was macht die Kunst mit einem? Und das ist natürlich das Live-Erlebnis. Es geht darum, vor einem Objekt zu stehen, es zu betrachten und anzufassen und möglicherweise zu riechen, je nach Medium. Das war nun alles nicht mehr möglich, und das war sicherlich der Grund, warum man so lange zögerlich damit gewesen war, digitale Praktiken ebenso zu adaptieren, wie andere Industrien es schon erfolgreich vorgemacht hatten.

Wie viel Digitalität verträgt die Kunst?

Ich denke, man muss hier dringend differenzieren zwischen Kunstrezeption und Kunsttransaktion. Kunst will immer das direkte Erlebnis. Die Kunstschaffenden wollen das, die Rezipienten wollen das. Zumindest, wenn das Werk daraufhin angelegt wurde, ist das auch ein ausschlaggebender Punkt für die Bewertung eines Kunstwerks. Und deswegen kann man, glaube ich, sagen, dass wir alle das direkte Kunsterlebnis wollen, ganz egal, ob wir nun Museumsbesucher sind, ob wir Sammlerinnen und Sammler sind, ob wir Galeristen sind, etc. Über die bestmögliche Rezeption von Kunst besteht also meines Erachtens eine große Einigkeit.

Die andere Frage ist: Was sagt das aus über die bestmögliche Distribution und das Handeln mit Kunst? Und wenn wir hier von anderen Industrien und Branchen lernen wollen, dann kann man sehen, dass man in vielen Bereichen, in denen man sich noch vor 20 bis 30 Jahren der digitalen Distribution verweigerte, heutzutage ganz neue und teilweise auch schlichtweg ergänzende Industriezweige herausgebildet haben. Das beste Beispiel hierfür sind industriell gefertigte Luxusgüter: Früher hätte man sicher gesagt, diese kostbare Handtasche, da muss man doch die Qualität des Leders spüren und riechen, da muss man die Proportionen sehen, die will man in die Hand nehmen. Und heute verkauft sich sowas online. Noch besser hat es bei Oberbekleidung oder Schuhen funktioniert.

Welchen Anteil macht der reine Online-Verkauf aktuell beim Umsatz von Christie’s aus?

Es ist immer noch bei weitem der kleinere Teil von beiden, aber viel interessanter finde ich, dass wir in 2020 mehr Objekte online only verkauft haben als in klassischen Saalauktionen.

Gibt es so etwas wie eine Wertobergrenze bei Online-Verkäufen?

In unserem Markt war es bisher so, dass die gläserne Decke bei Online-only-Auktionen und Onlinegeboten bei Live-Auktion unter 10.000 Dollar lag. Ich glaube, die Durchschnittszahlen lagen bis einschließlich 2019 knapp über 9000 Dollar. Allerdings haben wir im Lockdown des Frühjahres 2020 eine deutliche Entwicklung gesehen. Hier war eine Aufwärtsspirale im Wert angebotener Objekte zu verzeichnen: Es ging immer ein bisschen besser und immer ein bisschen höher, und das hat das Vertrauen geschaffen, dass man noch höherwertige Objekte durchaus auch rein digital verkaufen kann. Natürlich leistet dabei eine starke Marke wie Christie’s einen entscheidenden Beitrag in puncto Vertrauen, zum Beispiel durch die Zuverlässigkeit von Katalogisierung und Zustandsberichten oder Rückgabegarantien. Auf diese Weise kann man sehr viel Vertrauen herstellen, und ich würde sagen, inzwischen liegt die Grenze nach einem bewegten Jahr bei einem Vielfachen der ursprünglichen Obergrenze: Im Durchschnitt je nach Sammelgebiet bis zu 50.000 Dollar.

Dirk Boll, Buch, Was ist diesmal anders?
Dirk Boll vom Auktionshaus Christie’s schreibt über heutige und historische Krisen des Kunstmarkts. © Hatje Cantz Verlag

Service

BUCH

„Was ist diesmal anders? Wirtschaftskrisen und die neuen Kunstmärkte“,

Text(e) von Dirk Boll, illustriert von Kathrin Jacobsen

2020. 256 Seiten, 6 Abbildungen

Hatje Cantz Verlag

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