Kunstwissen

Die Villa Romana stellt sich den Themen unserer Zeit

Ruhe im Sturm: Die Villa Romana in Florenz ist das älteste deutsche Künstlerhaus. 1905 von Max Klinger erworben, waren hier viele Stipendiaten zu Gast, die später berühmt wurden. In den vergangenen Jahren hat sich die Villa neu erfunden und einen Treffpunkt für Kulturschaffende aus dem gesamten Mittelmeerraum geschaffen. Doch jetzt ist die Finanzierung in Gefahr

Von Sebastian Preuss
23.10.2018

Es herrscht paradiesische Ruhe. Der Touristentrubel ist fern in den toskanischen Hügeln mit ihren Zypressen und malerischen Häusern im echten oder verspäteten Renaissancestil. Steigt man hinauf zur Aussichtsterrasse auf dem Dach der Villa Romana, dann liegt Florenz majestätisch vor einem ausgebreitet, im Zentrum Brunelleschis gewaltige Domkuppel. Den verwunschenen Park haben die Gartenkünstler von atelier le balto – bekannt etwa durch die Hofgestaltung der Berliner Kunst-Werke – seit 2008 behutsam geordnet. Mittendrin ein eleganter Glaspavillon für Ausstellungen und andere Veranstaltungen, finanziert von privaten Förderern.

Alles strahlt lässige Schönheit aus, aber die Villa Romana ist kein nostalgisches Refugium. Hier geht es um die aktuellen Themen der Gegenwartskunst. Jahresstipendiaten aus Deutschland treffen auf ein italienisches Publikum und auf Künstler, die aus Tirana und Kairo, Ramallah und Casablanca, Beirut und Damaskus hierher eingeladen werden. Es ist ein Ort der Begegnung und der künstlerischen Produktion. Nichts Heikles wird ausgespart, seien es die Folgen des Kolonialismus, die zeitgenössische Kultur im Nahen Osten oder im Maghreb, das Flüchtlingsdrama vor Europas Küsten, die ­Situation der Migranten in Italien.

Gerade war das African Diaspora Cinema Festival für vier Tage zu Gast im Haus. Er habe noch nie so viele afrikanischstämmige Künstler kennengelernt, schwärmt Viron Erol Vert. Der Berliner Künstler ist einer der vier Villa-Romana-Preisträger, die alljährlich von Februar bis November hier leben und arbeiten, ausgestattet mit einem monatlichen Salär und einer geräumigen Wohnung samt Atelier. „Ich bin der Villa jeden Tag dankbar“, betont Vert. „So viel Zeit ohne Druck hatte ich noch nie. Hier können die Dinge viel besser reifen.“

Seine raumgreifenden Installationen behandeln komplexe Themen der Geschichte, Politik, Sexualität oder Psychologie. In Florenz hat er angefangen, in Öl zu malen. Zugleich setzt er sich intensiv mit der Stadt auseinander. „Während der Renaissance entstand hier auch der Kapitalismus. Florenz ist also den Fragen unserer Zeit sehr nahe.“

Ein Domizil der Künste

Die Villa Romana ist das älteste deutsche Künstlerhaus. Zum ersten Stipendiatenjahrgang von 1905 gehörte Georg Kolbe. Ein Jahr später kamen Käthe Kollwitz und Max Beckmann. Hans Purrmann, Horst Antes, Georg Baselitz, Markus Lüpertz, Katharina Grosse, Karin Sander und viele mehr waren über die Jahrzehnte hier. Max Klinger, der symbolistische Maler, Bildhauer und Grafiker, hatte die Italiensehnsucht der Künstler zu seiner Sache gemacht. Er überzeugte den Vorstand des Deutschen Künstlerbundes und suchte 1905 in Florenz nach einem geeigneten Domizil. „Heute Eigentümer Villa Romana Firenze geworden“, telegrafierte er am 4. April 1905 an den Kunstförderer Harry Graf Kessler.

Um 1850 oberhalb der Porta ­Romana an der Straße nach Siena errichtet, bot das spätklassizistische Gebäude mit 40 Zimmern den nötigen Platz. Der 1906 gegründete Trägerverein besteht bis heute und führte das Anwesen durch zwei Weltkriege, und konnte es zweimal nach Beschlagnahmung wieder zurückerlangen.

Seit 2006 führt Angelika Stepken das Künstlerhaus. Sie strahlt eine lässige Distanziertheit aus, lernt man sie näher kennen, dann spürt man rasch die innere Glut, mit der sie die Dinge vorantreibt. Bei den Künstlern ist sie sehr beliebt, denn mit unermüdlicher Energie und einem Gespür für die wichtigen Themen hat sie den Ort in vielen kleinen und großen Schritten mit neuem Inhalt erfüllt. Unter ihrer Leitung entwickelte sich die Villa Romana zu einem der wichtigsten Zentren der Gegenwartskunst in Florenz, ja in ganz Italien. Und dies mit nur einer Assistentin, einem Hausmeisterehepaar und einem fast lachhaft kleinen Programmbudget.

Als eine ihrer ersten Maßnahmen änderte Stepken das Vergabeverfahren für die vier Jahresstipendien des Villa-Romana-Preises. „Die Basis für das Ansehen des Hauses ist die Qualität der Preisträger“, das ist ihr wichtig. Während zuvor bis zu elf Jurymitglieder aus der ganzen Bundesrepublik vor allem darauf achteten, dass mit den Benennungen der föderale Proporz zwischen den deutschen Kunstzentren gewahrt blieb, entscheiden jetzt nur zwei Juroren, die jeweils bis zu fünf Vorschläge machen. Dann kommen sie zu langen, auch schon mal elfstündigen Sitzungen in die Villa, wo sie ihre Vorauswahl begründen müssen. „Das intensive Gespräch über die Kandidaten ist sehr wichtig. Daraus ergibt sich dann meistens der Konsens zwischen den beiden Juroren“, erklärt Stepken. „Wichtig ist, dass die Stipendiaten die Internationalität der Szene spiegeln. Und auch, dass in Deutschland über sie diskutiert wird.“

Berliner Internationalität

Schnell hat die neue Prozedur Früchte getragen. Viele der Preisträger seit 2008 haben mittlerweile auf sich aufmerksam gemacht: Clemens von Wedemeyer, Henrik Olesen, Yorgos Sapountzis, Vincent Vulsma, Nora Schultz, Sophie Reinhold, Mariechen Danz oder Flaka Haliti, um nur einige zu nennen. Wie kulturell vielfältig heute die Künstlerschaft vor allem in Berlin ist, davon zeugen die vier Stipendiaten von 2018. Vert ist Berliner mit türkischen Wurzeln, Jeewi Lee stammt aus einer südkoreanischen Künstlerfamilie, Christophe Ndabananiye wurde im Kongo geboren und kam vor 23 Jahren nach Deutschland. Lerato Shadi ist Südafrikanerin, mit einem Schweizer verheiratet und lebt seit einiger Zeit wie die anderen Preisträger in Berlin.

Als zweite Neuerung begann Stepken, neben den deutschen Stipendiaten Künstler aus dem Mittelmeerraum einzuladen. „Ich begriff, dass Italien heute nur zu verstehen ist, wenn man von hier aus mit einer 360-Grad-Perspektive in die mediterranen Länder, auf all ihre Gemeinsamkeiten, aber auch die Brüche und Kulturgrenzen blickt. In Italien realisiert man, wie wenig wir eigentlich davon wissen.“ Der albanische Maler Edi Hila war der Erste, den Stepken einlud. Damals im Westen noch wenig bekannt, ist er seit seinem Auftritt auf der Documenta von 2017 in aller Munde. Bald nach Hila reisten 2009 Wafa Hourani aus Ramallah und Hany Rashed aus Kairo an. Es folgten Gäste aus Marokko und Iran, Tunesien und dem Libanon, aus dem Kosovo und zunehmend auch aus Afrika südlich der Sahara. Manche blieben einige Monate, andere nur wenige Wochen. Das Ganze hat aber buchstäblich seine Grenzen, wenn immer wieder Einladungen daran scheitern, dass die italienischen Behörden ein Visum verweigern.

„Die Gastkünstler erleben Florenz sehr unterschiedlich“, erzählt Stepken. „Edi Hila kannte die Stadt aus den Siebzigern. Für ihn war es eine hochemotionale Rückkehr in die Zeit, bevor ihn das Hodscha-Regime zum Arbeitsdienst und zu Ausstellungsverbot verurteilte. Er war blockiert und konnte nicht malen. Seine Eindrücke verarbeitete er erst auf der Leinwand, als er wieder in Tirana war. Wafa Hourani dagegen genoss in der Villa einfach nur die Ruhe.“ Lediglich 7000 Euro stehen jährlich für die Reise- und Lebenskosten aller Gastkünstler zur Verfügung. Doch der Effekt dieser Initiative ist gewaltig, denn dadurch wurde die Villa Romana zu einem aktiven Knotenpunkt, der Menschen aus den aktuellen Brennpunkten rund um das Mittelmeer ins beschauliche Florenz bringt.

Von Albanien bis Lampedusa

Als dritte Neuerung, die entscheidend zum gewachsenen Renommee der Villa Romana beitrug, entwickelte Stepken ein anspruchsvolles Ausstellungs- und Veranstaltungprogramm. Unglaublich, was hier für ein jährliches Programmbudget von nur 30 000 bis 35 000 Euro bislang stattfand: Edi Hila zeigte seine Florenz-Bilder. Rosa Barba und Collier Schorr hatten viel beachtete Auftritte, italienische Kuratoren widmeten sich in Gruppenschauen aktuellen soziologischen oder urbanistischen Themen. Es gab ein Projekt über unbewohnte Inseln im Mittelmeer, ein anderes begegnete mit zeitgenössischen Mitteln der Renaissance, und die Künstlerin Marine Hugonnier setzte sich mit den visionären Florentiner Designern von Superstudio auseinander. 2011 reagierte eine Ausstellung auf das Flüchtlingsdrama auf der Insel Lampedusa.

Neben den Ausstellungen finden eine Vielzahl von Vorträgen, Künstlergesprächen, Podiumsdiskussionen, Workshops, Lesungen, Filmprogrammen und Konzerten neuer Musik statt. Oft pilgern Hunderte von Florentinern die Via Senese hinauf, darunter auffällig viele junge Menschen. Ein Anliegen, das Stepken immer wieder verfolgt, ist die Geschichte der italienischen Nachkriegsavantgarde, vor allem wenn es Bezüge zu Florenz gibt. So organisierte sie Ausstellungen und Publikationen zu den Konzeptkünstlern Gianfranco Baruchello, Luciano Bartolini und Ketty La Rocca.

Die Situation der Institutionen für zeitgenössische Kunst sei in Florenz heute „eher traurig“, erzählt Stepken. Umso intensiver hat sie sich mit freien Projektgruppen, Universitäten, Architekten, Kunsthistorikern und vielen anderen Kulturschaffenden vernetzt. Und als Radio Papesse, ein unabhängiger Internet-Radiosender für Kulturthemen, heimatlos wurde, zögerte sie nicht, den beiden Betreiberinnen einen Raum unter dem Dach zur Verfügung zu stellen. „Florenz hat ein wahnsinniges Potenzial. Mit unseren beschränkten Mitteln können wir aber die Möglichkeiten gar nicht ausschöpfen.“

Spuren der Vergänglichkeit

Die vier Stipendiaten aus Deutschland genießen die italienisch-internationale Atmosphäre und beteiligen sich, wie auch die Gastkünstler, am Programm. Die Villa und der Garten sind aber groß genug, um dennoch jederzeit Ruhe zu haben. „Es ist ein großes Geschenk. Hier habe ich einfach mehr Zeit und kann viel besser arbeiten“, sagt ­Jeewi Lee. In ihrer Arbeit geht es meist um Spuren von Geschichte und Geschichten. So bestand eine ihrer Ausstellungen aus nichts anderem als dem verfliegenden Geruch von Elefanten.

In der Villa Romana goss sie einen Mauerausbruch aus und ließ ihn exakt in Carrara-Marmor nachformen. Indem sie mit der kleinen, amorphen Skulptur die Fehlstelle in die Fassade des Hauses füllte, markierte sie den Verfallsprozess und setzte selbst eine Spur. Lee beschäftigte sich mit der Vergangenheit von Florenz und hat Werkstätten besucht, die alte Handwerkstechniken hochhalten. „In meiner konzeptuellen Arbeit geht es oft um Materialien, Oberflächen oder ­Gerüche. Da kann ich hier viel entdecken.“

Migration im Mittelmeerraum

Während sich die Flüchtlingskrise 2015 in Europa zuspitzte, zeigte sich immer mehr, wie weitsichtig Stepken ihr Programm ausgerichtet hatte. Die Migration über das Mittelmeer ist ein roter Faden, zunehmend auch mit Blick nach Afrika. In diesem Sommer war in der Villa Romana als multimediale ­Installation das erschütternde „Kongo Tribunal“ zu erleben. Schonungslos dokumentiert und verhandelt der Schweizer Regisseur Milo Rau mit Zeugen und Experten die seit mehr als 20 Jahren währende Hölle des Bürgerkriegs im Kongo. Im Rahmen des Projekts „Seeds for Future Memories“ (Samenkörner zukünftiger Erinnerung) kam es zur Zusammenarbeit zwischen der Villa Romana und mit dem soziokulturellen Kultur­zentrum „Thread“ im Senegal. Dreizehn Künstler reisen derzeit hin und her und untersuchen die Realitäten an beiden Enden des Migrantenstroms. Was das alles mit der paradiesischen Villa zu tun hat, sieht man im Straßenbild der Stadt schnell. Zehntausende Afrikaner leben heute in der Toskana.

Die Südafrikanerin Lerato Shadi lässt das natürlich nicht kalt. Die Villa-Romana-Preisträgerin hat ihr geräumiges Wohnatelier mit Mann und Kind bezogen. In ihren Installationen und Performances zeigt sie häufig auf, wie Afrikaner (vor allem Frauen) aus der Geschichte getilgt werden. „Noch nie war ich an einem Ort, wo alte Geschichte so gegenwärtig ist wie hier“, sagt sie. „In Südafrika habe ich nichts davon gelernt. Dort fing die Geschichte mit der Landung der Holländer an.“ Christophe Ndabananiye betreibt derweil ein ganz privates Memorialwerk. In der Villa Romana, wo er zur Ruhe kommt, durchläuft er die Stationen seines Lebens, von Lubumbashi bis Berlin, die als gelbe Zettel an der Wand hängen. Die meisten Erinnerungen kommen aus seiner Kindheit, erzählt er, aus dem Kongo und aus Ruanda, wo er 1994 den Genozid miterlebte. Daraus entstehen amorphe Formen auf der Leinwand, die nur er lesen kann. „Ich bin Weltmeister im Verdrängen“, sagt er zum Flüchtlingsthema. „In Florenz kriege ich nicht so viel davon mit. Aber in Cosenza in Kalabrien, wo ich Wissenschaftler aus dem Kongo traf, habe ich das Misstrauen sehr gespürt.“

Ein bedrohtes Refugium

Angelika Stepken ist voller Pläne für die Zukunft, aber mit einem Jahresbudget von 450 000 Euro inklusive Personal, Instandhaltung und Stipendienbetrieb sind ihr große Sprünge verwehrt. „Wir bräuchten dringend wenigstens 250 000 Euro mehr“, erklärt sie. Die Deutsche Bank hat den Villa-Romana-Verein über 100 Jahre lang maßgeblich mitgetragen – eine in dieser Kontinuität einzigartige Tradition des Mäzenatentums. Doch nun hat die Kulturstiftung der Bank, Hauptgeldgeberin neben dem Bundeskulturministerium, überraschend angekündigt, ab 2021 auszusteigen. Eine ernsthafte Bedrohung für das Künstlerrefugium. „Wir müssen versuchen, künftig die Finanzierung auf eine breitere Basis von Förderern zu stellen“, erklärt Brigitte Oetker in Berlin, die sich seit vielen Jahren im Vorstand des Vereins für die Villa engagiert. Aber wird das reichen? Aus dem Haus von Kulturstaatsministerin Monika Grütters kamen bereits Signale, dass man sich der Verpflichtung für den Erhalt des Künstlerhauses bewusst sei. Es überdauerte zwei Kriege und erlebt seit zehn Jahren seine vielleicht produktivste Blütezeit: Unvorstellbar im reichen Deutschland, solch einen Schatz untergehen zu lassen.

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Dieser Beitrag erschien in

Weltkunst Nr. 148/2018

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