Kunstwissen

Stilkunde: Herrenwesten

Für ein Jahrhundert war die prachtvoll gestaltete Herrenweste unabdingbarer Bestandteil der höfischen Herrenmode – heute sind sie Sammlerstücke

Von Gloria Ehret
03.01.2017

Heute kann jeder anziehen, was er will, je nach finanziellen Mitteln und Figur. Das war nicht immer so. Jahrhundertelang gab es strenge Kleiderordnungen. Stoffe und Auszier der Garderobe waren Ausweis einer Standeszugehörigkeit; die Schnitte der Kleider und Anzüge verwiesen auf den – offiziellen oder eher privaten – Anlass des Tragens. Wie in so vielen Bereichen der Lebenskultur war der französische Hof im 18. Jahrhundert auch Trendsetter in Fragen der Mode, dem Fürsten und Adel in ganz Europa nacheiferten. Nach der üppigen Schwere der Gewänder zur Zeit Ludwigs XIV. wurden im Rokoko die Stoffe leichter und die Formen graziler, bei höchster Raffinesse der Ausführung. Dazu gehörten die bestickten Seidengewänder, die uns in ihrer handwerklichen Perfektion und sinnlichen Schönheit immer wieder begeistern. Die Silhouette der Damenmode war während des gesamten 18. Jahrhunderts von Korsett und Reifrock bestimmt.
Doch wir schauen hier auf die Weste, die neben Rock und Kniehose rund hundert Jahre unabdingbar zur höfischen Männertracht gehörte. Wobei Rock und Weste in Stoff und Dekor lange eine Einheit bildeten, denn im Hause durfte ein Herr von Stand sich auch salopp nur mit Weste bekleidet bewegen. Die würdevolle Steifheit der schweren Galaroben zu Zeiten des Sonnenkönigs – das Berliner Kunstgewerbemuseum besitzt einen Herrenrock mit Silberstickerei, der stolze neun Kilogramm wiegt! – wurden in der Louis-XVI-Zeit vielfach durch leichtere, auf neuen Webstühlen gefertigte Seidenstoffe aus Lyon ersetzt, die üppig bestickt wurden.

Lyon avancierte im 18. Jahrhundert dank staatlicher Förderung und technischer Perfektion zum internationalen Zentrum der Seidenindustrie. Der Herrenanzug mutierte zum „Habit à la Française“. Neben der langärmligen Weste kam das ärmellose Gilet in völlig neuer Schnittform mit gerader Unterkante, ohne Schöße und Leistentaschen statt Klappentaschen in Mode. Um 1785 wurde es mit einem Stehkragen versehen. Allerdings hat man das Gilet nie mit einem Galakostüm kombiniert. Jacke und Weste bzw. Gilet wurden mit kunstvollen Stickereien aus vielfarbigen Seidenfäden, Gold- und Silbergarn veredelt und mit künstlichen Juwelen und Pailletten dekoriert.
Dass bei allem Luxus keine Verschwendung herrschte, zeigen die Rückseiten der Westen, die aus einfacherem Stoff wie etwa Leinen bestehen. Gewebe mit Gold- und Silberfäden (den Ausdruck „Brokat“ vermeiden Textilhistoriker) wurden bis in die 1770er-Jahre für Galakleidung verwendet. Leichte, einfarbige Stoffe wie Atlas und Taft wurden unter Ludwig XVI. dann auch für festliche Roben verarbeitet. Für die Seidenstickereien bevorzugte man zierliche Muster mit Festons, Girlanden und Streublüten, die beim höfischen Galaanzug auf Krägen und hintere Schoßteile ausgedehnt wurden.

Die Herstellung der Hofgewänder für beiderlei Geschlechter samt der Korsetts war das Privileg der Herrenschneider. Die Stickereien entstanden in spezialisierten Werkstätten bzw. Ateliers, die oft zünftisch organisiert waren. Die Leitung oblag dem Stickmeister, doch durfte er Männer und Frauen beschäftigen. In der Seidenstadt Lyon arbeiteten 1778 einem Bericht zufolge 6000 Stickerinnen. Sie setzten die von Künstlern auf Papier gemalten Dessins, die der Kunde ausgewählt hatte, mit Nadel und Faden um. Zudem verfügte eine Manufaktur über fertig ausgeführte Stickmuster, unter denen der Interessent wählen konnte. 1770 hat Charles Germain de Saint-Aubain in seiner „L’Art du Brodeur“ die verschiedenen Stichtechniken mit den zugehörigen Seidengarnen und Metallfäden ausführlich beschrieben.
Gestickte Dekore waren gefragt, Neuerungen wie „Halbfabrikate“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Folge. Sie entstanden im Auftrag von Kaufleuten und Fabrikanten. Ein Kupferstich in der berühmten „Encyclopédie“ von Diderot und D’Alambert 1763 zeigt, wie sie entstehen.
Realiter konnte man solche protoindustriell vorgefertigten, noch nicht zugeschnittenen Herrenwestenteile im Bayerischen Nationalmuseum in München kürzlich in der Sonderausstellung „Mode aus dem Rahmen“ bestaunen. Ob Seidenrips, -atlas oder -taft – die entsprechenden Stoffbahnen sind mit Blumen- und Blütenmotiven sowie ganzen Genreszenen (nach druckgrafischen Vorlagen) für Herrenwesten und Gilets in Platt-, Stiel- und Knötchenstich bestickt. Der Stoffgrund ist bestens ausgenutzt. Neben die Sticke­reien für die Vorderseiten sind platzsparend bestickte Stehkragenecken, Taschenklappen und Knopfbezüge gesetzt. Der Schneider musste die einzelnen Partien nur noch nach den Maßen des Kunden zuschneiden, mit den Rückenteilen aus Leinen zusammennähen und füttern. Johannes Pietsch, Kurator der Sonderschau und bester Kenner der Materie, ist sich sicher, dass Halbfabrikate in großer Zahl auf Vorrat hergestellt worden sein müssen, weil sich überraschend viele Beispiele in Museen erhalten haben. Mit der Französischen Revolution verschwanden die reich bestickten Hofroben zwar vorübergehend, doch erlebten sie unter Kaiser Napoleon I. für förmliche Anlässe und als neu kreierte Paradeuniformen eine letzte prächtige Blüte.

Service

ABBILDUNG GANZ OBEN

Herrenanzug (habit habillé), der um 1790 vermutlich in Italien geschneidert wurde, aus dem Bestand des Bayerischen Nationalmuseums in München (Foto: Bayerisches Nationalmuseum München)

DIESER BEITRAG ERSCHIEN IN

WELTKUNST Nr. 120/2016

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