Kunstwissen

Wörlitz – Sommer, Sonne, Landschaft: raus ins Grüne!

Eins der vielleicht schönsten Ziele könnte das Gartenreich Wörlitz sein. Denn nirgendwo sonst verbindet sich eine weitläufig gestaltete Parklandschaft mit Kanälen und Bächen, großartiger Architektur und romantischer Baukunst. Schöpfer dieses paradiesischen Arkadiens war Fürst Franz. Bald nach seinem Regierungsantritt 1756 setzte er seine Vision um. Nach solch illustren Besuchern wie Goethe, Napoleon, Hölderlin oder Novalis können wir Nachgeborene das Gartenreich genießen.

Von Gloria Ehret
15.07.2016

Schon im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich das Gartenreich zu einer profanen Pilgerstätte, die Goethe und Napoleon, Kronprinz Ludwig, der spätere König von Bayern, und der preußische König Friedrich Wilhelm II., später Dichter wie Hölderlin, Novalis, Jean Paul oder Schelling sowie einfache Bürger von nah und fern besuchten. Denn sein Schöpfer, Leopold III., Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740–1817), kurz Fürst Franz genannt, hat nicht nur den bedeutendsten Landschaftspark mit Gebäuden in neuen Stilen auf dem europäischen Festland geschaffen. Er hat mit seinem Gartenreich eine humanistisch-philosophische Idee umgesetzt, die in Vielem bis heute vorbildlich ist. Wie kam es dazu, dass das kleine Fürstentum mit 35.000 Einwohnern zu einem Musterstaat der Aufklärung wurde, dessen Modellcharakter sich im Wörlitzer Gartenreich spiegelt?

Fürst Franz, der Enkel des Alten Dessauers, des vielgerühmten Kriegsmannes und Vorbild Friedrichs II., wurde mit elf Jahren Vollwaise und wuchs unter der Obhut seines Onkels auf. Der Tradition des Hauses folgend, trat der kräftige Jüngling in die preußische Armee ein und war bereits 1752 Regimentschef. Doch unter dem Eindruck der Schlacht von Kolin im Siebenjährigen Krieg beschloss Franz den Austritt aus der Armee, was nicht nur die Verachtung Friedrichs II., sondern auch hohe Kontributionen zur Folge hatte. An seinem 16. Geburtstag, dem 10. August 1756, lernte Franz den vier Jahre älteren sächsischen Baron Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff kennen – eine Schicksalsbegegnung. Der vollendete Kavalier mit philosophischer Lebenshaltung wurde sein Herzensfreund, ständiger Reisebegleiter, ästhetischer Berater und der Architekt seines Wörlitzer Schlosses und vieler dortiger Bauten. 1758 übernahm Franz die Regierung, wobei es ihm gelang, sein kleines Fürstentum zwischen den Interessen der engen Nachbarn Preußen und Sachsen neutral zu halten. 1763 reiste er mit Erdmannsdorff über die Niederlande erstmals nach England, das ihm als Projektionsfläche seiner Ideale erschien. Neben London besuchten sie Herrenhäuser und Gartenanlagen, die in ihrer klassizistischen Anmut für Franz eine Offenbarung bedeuteten. Nicht nur im Baustil, sondern in vielen praktischen Details der Inneneinrichtung seiner Wörlitzer Gebäude setzte der anglophile Fürst Anregungen direkt um: so beispielsweise in dem Einbau von Schrankbetten und Schiebefenstern oder in dem riesigen Esstisch des Speisesaals in seinem Landschloss, dessen seitliche Klappplatten das Möbel attraktiv verkleinert, wenn nicht aufgetischt wurde. England weckte auch sein Interesse an alter Glasmalerei, auf die hier später noch eingegangen wird. 1765 trat Fürst Franz mit Erdmannsdorff als Reisedirektor und einer vielköpfigen Entourage seine Grand Tour nach Italien an. In Rom lernte er den Altertumsforscher Johann Joachim Winckelmann kennen, der ihm die Begeisterung für die römische Antike nahebrachte. In Neapel befreundete er sich mit dem weithin berühmten Kunstkenner, Mäzen und englischen Gesandten Lord William Hamilton. Gemeinsam besuchten sie die damals neu entdeckten Ausgrabungsstätten Pompeji und Herculaneum und bestiegen den Vesuv. Franz‘ Begeisterung für die bedeutenden Kunststätten und Naturmonumente schlug sich in seinem Gartenreich nieder. Bis heute versetzt es die Besucher in Erstaunen.

Wörlitz liegt rund 20 Kilometer von Dessau, der Hauptstadt des kleinen Fürstentums, entfernt. Auf 112 Hektar ließ Fürst Franz um den vierarmigen Wörlitzer See mit Hilfe seines Gartenarchitekten Johann Friedrich Eyserbeck über die Jahrzehnte ein Gartenreich erstehen, das im Jahr 2000 von der UNESCO zum Welterbe gekürt wurde. Es bildet ein Gesamtkunstwerk mit Seen, Kanälen, Inseln und Auen, Einzelbäumen, Pflanzengruppen und Baumensembles, mit Brücken und Grotten, in deren Sichtachsen ein repräsentatives klassizistisches Sommerschloss im palladianischen Stil und ein Gotisches Haus sowie Pagoden, Tempel, Urnen, eine Synagoge und ein veritabler Vulkan zu bestaunen sind. Franz‘ freiheitliche Geisteshaltung veranschaulicht der sogenannte Toleranzblick, der in einer Sichtachse den Turm der protestantischen Kirche und der Synagoge vereint. Dabei ging es dem Landesvater letztendlich um Volksbildung. Er wollte seine Untertanen teilhaben lassen an den großartigen Naturphänomenen und Kunstwerken, die sie selbst wohl nie vor Ort kennenlernen würden. Es handelt sich bei den Bauten teils um direkte Kopien nach Vorbildern, die er in England oder Italien studiert hatte.

Fürst Franz teilte Jeremy Benthams Postulat, „Größtes Glück für die größte Zahl von Menschen“. Und so waren nicht nur die fürstlichen Gartenanlagen der Öffentlichkeit zugänglich. Auch das Wörlitzer Landschloss konnten die Untertanen zu bestimmten Zeiten besuchen. 1769 bis 1773 von Erdmannsdorff errichtet, gilt es als Gründungsbau des Klassizismus in Deutschland und spiegelt mit all seinen Wandmalereien und Stuckaturen, den antiken Plastiken, der englischen Wedgwood-Keramik, einem beachtlichen Ensemble von Roentgen-Möbeln, wandfüllenden Veduten der italienischen Städte Rom, Florenz und Venedig und dem hinreißenden Palmensaal im später aufgesetzten Bellevue-Pavillon mit Schiffstreppe die Geisteshaltung, die Interessen und Reiseeindrücke des Fürsten. Für seine Gemahlin Luise Henriette Wilhelmine von Brandenburg-Schwedt, eine Nichte Friedrichs II., ließ er 1774 bis 1778 von Erdmannsdorff ein klassizistisches Schlösschen in einer idyllischen Gartenanlage errichten: das nach ihr benannte Luisium.

Spektakulärstes Denkmal im Gartenreich ist sicherlich der Miniatur-Vesuv, den Franz 1788 auf einem „tempel- und höhlenreichen Wunderfelsen“ nach dem Vorbild am Golf von Neapel hat nachbauen lassen. Zu seinen Füßen entstand ein antikes Theater und bekrönt wird die Insel Stein durch ein Freundschaftsmonument für Lord Hamilton, dessen Villa Emma am Fuß des Posillipo bei Neapel der Fürst gleichsam hierher transferiert und zauberhaft ausgestattet hat.

Gemäß seinem Anspruch, das Nützliche mit dem Schönen zu verbinden, setzte Fürst Franz ein für damalige Zeiten radikales Reformwerk zur Verbesserung der äußeren Lebensverhältnisse unter Wahrung einer individuellen, selbstbestimmten Entwicklung seiner Untertanen um. Dafür scharte er eine Vielzahl kluger Köpfe und bedeutender Intellektueller als Berater um sich. Darunter die Erzieher Johann Bernhard Basedow und Carl Gottfried Neuendorf, den Musiker Friedrich Wilhelm Rust oder den Juristen August von Rode. Resultat waren eine florierende Landwirtschaft mit vorbildlicher Landschaftspflege, wie sie im Wörlitzer Gartenreich verwirklicht wurde, ein fortschrittliches Gesundheitssystem, eine humane Armenfürsorge, breite Schulbildung – auch für Mädchen – und vieles mehr bei eigener bescheidener Hofhaltung.

Wie so viele Fürsten vor und nach ihm hatte sich auch Franz dem Bauen verschrieben. Zwischen 1773 und 1813 entstand mit mehreren Bauerweiterungen – darunter ein zinnenbekrönter Achteck-Turm, ein Rittersaal, ein Geistliches und Kriegerisches Kabinett – das sogenannte Gotische Haus. Der Fürst beauftragte für sein Gotisches Haus im neogotischen Stil die beiden Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff und Georg Christoph Hesekiel. Im Gotischen Haus wohnte der Hofgärtner Ludwig Schoch mit seiner Familie. Zugleich diente es dem unglücklich verheirateten Fürsten als privates Refugium. Hier lebte er in morganatischer Ehe mit der Gärtnerstochter Luise Schoch und den drei gemeinsamen Kindern.

Das Gotische Haus zählt zu den frühesten und besterhaltenen neogotischen Architekturen auf dem europäischen Kontinent. Neben Gebäudeteilen und Gemälden, die Franz aus dem Dessauer Stadtschloss hierher verbracht hatte, birgt es eine weltberühmte Sammlung von Glasgemälden des 15. bis 17. Jahrhunderts, die der Fürst über einen Zeitraum von 30 Jahren zusammentrug. Auch dafür kam die Inspiration aus England. Horace Walpole (1717–1797), Sohn des Premierministers Sir Robert Walpole und Autor des bedeutenden Werks „Über die englische Gartenkunst“, hatte 1753 eine Sammlung von 450 niederländischen Roundels für sein Landhaus Strawberry Hill erworben. 1786 schildert er die Begeisterung der Engländer für die alte Glasmalerei.

Wichtigster Vermittler der einmaligen Kollektion in Wörlitz war der bis heute wegen seiner Physiognomischen Studien bekannte Schweizer Theologe Johann Caspar Lavater (1741–1802). Erstmals sind sich die beiden 1782 in Zürich begegnet. In Zeiten des technischen Fortschritts und modischen Wandels wurden Glasmalereien aus profanen und sakralen Bauten entfernt und verkauft. Lavater verfügte über kunsthistorische Kenntnisse, ein weitgespanntes Beziehungsnetz und wusste, wo qualitätsvolle Scheiben zu finden waren, wie jene aus dem Zürcher Schützenhaus und aus der Kirche Maur.

Geht der Besucher heute durch die pflaumenblau getünchten Räume des kunstsinnigen Fürsten Franz, ist er überwältigt von den wertvollen alten Glasscheiben, die nach formalästhetischen und ikonographischen Gesichtspunkten in die Fenster eingebaut wurden. Ihnen ist eine prachtvolle zweibändige Publikation im Deutschen Verlag für Kunstwissenschaft gewidmet, in der die beiden Autorinnen Mylène Ruoss und Barbara Giesicke die komplette Sammlung exemplarisch erarbeitet haben. Umfangreichster Bestand sind 102 Zürcher Glasgemälde, die zwischen 1500 und 1680 zu datieren sind. Über 40 weitere Scheiben stammen aus der Schweiz. 18 (von insgesamt 20) Zürcher Bannerträger-Scheiben von 1572-75 aus dem Schützenhaus am Platz schmücken ein monumentales Fenster im Rittersaal, der wiederum der St. Georgskapelle in Schloss Windsor nachempfunden ist. Ein großes Georg-Fenster von 1511 aus der Kirche Maur wurde in das fürstliche Arbeitszimmer eingelassen. Georg ist der Schutzheilige Englands und steht hier in enger Verbindung zum 1348 zu seinen Ehren gegründeten Hosenbandorden. Wie die Autorinnen darlegen, übernahm Fürst Franz die Struktur des Hosenbandordens für seinen gegen das Haus Habsburg und den preussischen König gerichteten „Fürstenbund“, den er um 1783 im Begriff war zu gründen.

So wie sich die englischen Knights of the Garter seit Jahrhunderten in St. George’s Chapel zum Kapitel treffen, so plante Fürst Franz, sollten sich die Mitglieder des Fürstenbundes im Rittersaal des Gotischen Hauses in Wörlitz versammeln.

1576 datiert ist die Zürcher Schwurscheibe des Hans Heinrich Lochmann aus dem Gasthof zu Knonau, die heute das Kriegerische Kabinett ziert. Weitere herausragende Stücke sind im Anbau das Jakobus-Glasgemälde von 1511 zusammen mit neun von ursprünglich 12 Apostelfenstern aus der sogenannten Credo-Serie der Kirche Maur. Auch die Niederlande, Paris, Augsburg und Nürnberg sind vertreten. Nach Lavaters Tod kaufte Fürst Franz über den Architekten Friedrich Weinbrenner in Karlsruhe oberrheinische Scheiben. 13 Glasgemälde aus der Zeit von 1480 bis 1610 stammen aus Straßburg-Colmar. Darunter die drei monumentalen Fenster in der Bibliothek mit der Kreuztragung und Beweinung Christi sowie dem Marientod.

Das Gartenreich gleicht einem paradiesischen Arkadien und ruft mit seinen sichtbaren und verborgenen Anspielungen Assoziationen an das antike Rom, den palladianischen Klassizismus, die italienische Spätgotik und die englische Neugotik hervor. Kein Wunder, dass der Berliner Publizist Andreas Riem 1796 schrieb: „Das ganze Land ist ein Garten Gottes, und die Gegenden um Dessau ein wahres Paradies.“ Und über Franz: „Er ist freundlich und gut, und der Abgott seiner Untertanen – so allgemein einstimmig habe ich noch nie das Lob eines Fürsten gehört als dieses – des Fürsten von Dessau.“

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