Christoph Amend ist Chefredakteur des ZEITmagazins und Herausgeber von WELTKUNST und KUNST UND AUKTIONEN.

Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?

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Hans Ulrich Obrist in Neapel

Fotografien von Mimmo Jodice und Installationen von Gian Maria Tosatti in Neapel, wo sich dank des Madre, des zeitgenössischen Museums, viel tut

Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?
Wir können über Neapel sprechen, da war ich gerade. Aus Südeuropa kommt ja insgesamt eine neue Energie, ein neuer Optimismus, zum Beispiel aus Portugal, auch aus Spanien. Und in Neapel tut sich künstlerisch sehr viel. Wie immer liegt das vor allem an einem Museum.

Warum wie immer?
Sie können das überall beobachten: Wenn eine Stadt ein dynamisches Museum hat, wirkt es wie ein Motor für das kulturelle Leben. In Neapel ist es das Madre, das der junge Direktor Andrea Viliani seit ein paar Jahren auf hochinteressante Weise leitet.

Was hat Sie begeistert?
Vor allem die Ausstellung des 82-jährigen Fotografen Mimmo Jodice: Es könnte keine bessere Einführung in die jüngere Geschichte Neapels geben als seine Bilder. Er hat bereits in den Sechzigerjahren mit konzeptioneller Fotografie experimentiert, inspiriert von den russischen Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts, Fotografie ohne Film, Camera obscura, chemische Prozesse, ganz ähnlich wie die Experimente von Sigmar Polke zur gleichen Zeit.

Was hat das mit Neapels Geschichte zu tun?
Jodice hat sich parallel zu diesen Experimenten auch früh der sozialen Frage genähert. Er hat die Armut Neapels fotografiert, das Leiden in Krankenhäusern dokumentiert. Als sozialer Fotograf ist er bekannt geworden, es gibt Tausende Bilder. Irgendwann in den Siebzigerjahren geschah dann ein Wandel: Auf einmal verschwinden die Menschen aus seinem Werk. Plötzlich zeigt er metaphysische Stadtlandschaften, beinahe post-apokalyptisch. Kokoschka hat ja einmal von der Schwierigkeit gesprochen, das Porträt einer Stadt zu malen, weil die Stadt sich den Versuchen entzieht, in einem Bild zusammengefasst zu werden.

Wie entzieht sich die Stadt?
Kokoschka sagt: Wenn das Bild, das man malt, fertig ist, hat sich die Stadt schon wieder verändert. Jodice gelingt das trotzdem – auf besondere Weise. Er porträtiert seine Heimatstadt wie kein anderer Fotograf. Parallel dazu werden im Madre Zeichnungen von Camille Henrot gezeigt, der französischen Künstlerin, die auch in Deutschland mittlerweile sehr bekannt ist. Ich habe auch den jungen Künstler Gian Maria Tosatti besucht, für meinen Instagram-Account hat er ein Post-it geschrieben mit dem Satz: „We are the last line of defence.“ Er hat sich fünf, sechs Orte in Neapel angeeignet, leer stehende Häuser. Eine besondere Erfahrung: Man geht die Treppen eines der Häuser hoch und fragt sich die ganze Zeit: Wo ist hier die Kunst? Dann kommt man oben an, und als Erlösung hat Tosatti dort einen Altar auf einem Sandboden aufgebaut. Drumherum fliegen Vögel. Diese Stadtexperimente werden im kommenden Winter in einer Ausstellung im Madre zu sehen sein. Außerdem hat die Galerie Alfonso Artiaco die bisher größte Übersichtsschau des albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama gezeigt, über den wir schon mal sprachen. Es sind neue Skulpturen, Keramiken, Zeichnungen von ihm zu sehen, die er während seiner politischen Arbeit anfertigt! Sogar eine Tapete mit seinen Zeichnungen.

Warum waren Sie eigentlich in Neapel?
Ich habe auf Stromboli Urlaub gemacht, ich war übrigens das erste Mal auf dem Vulkan. Die Wanderung dauert drei Stunden, oben kann man den Sonnenuntergang sehen und dann auf der Asche herunterrutschen, so als ob man Ski fährt. Mich als Schweizer hat das natürlich besonders begeistert.

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunstwelt?
Ich lese gerade den neuen Roman von T. C. Boyle, „The Terranauts“. Er beschäftigt sich mit dem Experiment Biosphere 2 aus den Neunzigerjahren, das beweisen wollte, das man ein eigenständiges Ökosystem schaffen kann. 

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Abbildung oben

MADRE · museo d’arte contemporanea Donnaregina, Napoli,
Ingresso,
Foto: Amedeo Benestante,
Courtesy Fondazione Donnaregina per le arti contemporanee, Napoli

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Christoph Amend, Herausgeber der WELTKUNST, befragt Hans Ulrich Obrist jeden Monat nach seinen Entdeckungen in der Kunst

Dieser Artikel erschien in

WELTKUNST Nr. 119/2016

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Hans Ulrich Obrist in Südfrankreich

Eine Fotografieausstellung und das Festival Les Rencontres de la Photographie in Arles – und das Meer vor dem Atelier von Pierre Soulages

Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?
Ich war wie jeden Sommer in Südfrankreich, es ist unglaublich, was sich kulturell dort alles tut. Die Schweizer Philanthropin Maja Hoffmann gründet in Arles mit ihrer Luma-Stiftung ein Kulturzentrum …

… auf einem stillgelegten Bahngelände.
Im Mittelpunkt steht ein Gebäude von Frank Gehry, das 2018 eröffnet werden soll. In diesem Sommer wurde allerdings schon das Gebäude der New Yorker Architektin Annabelle Selldorf fertiggestellt: La Méca­nique. Zur Eröffnung haben wir mit dem sogenannten Core Team des Projekts …

… was ist das Core Team?
Eine Gruppe, die Hoffmann berät: Tom Eccles, Direktor für Curatorial Studies am Bard College, die Künstler Liam Gillick und Philippe Parreno, Beatrix Ruf, die Direktorin des Stedelijk Museum in Amsterdam, und ich. Wir haben zur Eröffnung des Gebäudes die Fotografieausstellung „Systematically Open?“ zusammengestellt. Fotografie, weil zeitgleich das Fotografiefestival Les Rencontres in Arles stattfindet.

Welche Künstler sind zu sehen?
Es sind vier Projekte. Walead Beshty präsentiert seine konzeptionelle Arbeit über die Entwicklung der Bilderproduktion von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Hito Steyerl im digitalen Zeitalter. Elad Lassry stellt anonyme Bilder aus, und Zanele Muholi zeigt unter dem Titel »Somnyama Ngonyama« – auf Deutsch »Sei gegrüßt, schwarze Löwin« – eine neue Serie von Selbstporträts. Muholi ist eine der einflussreichsten Aktivistinnen Südafrikas, die gegen die Homophobie dort kämpft. Die vierte Arbeit stammt von der Fotografin Collier Schorr, die ihre Kollegin Anne Collier eingeladen hat: Da geht es um Akte und Studien, um gegenseitiges Fotografieren der beiden Fotografinnen, ein intensiver Austausch.

Die fünfte Arbeit, das entnehme ich gerade der Website der Stiftung, ist vom Architekten der Ausstellung, Philippe Rahm?
Genau. Er hat im Gebäude von Annabelle Selldorf eine subtile Ausstellungsarchitektur entwickelt, um ein Gleichgewicht zwischen den Arbeiten der vier Künstler zu finden. Er setzt das natürliche Licht ein, es gibt dunkle und helle Zonen.

Was haben Sie auf den Rencontres selbst gesehen?
Ein Highlight ist die Ausstellung des berühmten Kriegsfotografen Don McCullin. Die Schau in Arles zeigt die unbekannte Seite seiner Arbeit, Landschaften etwa und Sozialfotografie aus dem London der 60er-Jahre. Und der Künstler Maurizio Cattelan trifft auf die französische 68er-Satirezeitschrift Hara-Kiri, er macht heute etwas Ähnliches mit seinem Magazin Toiletpaper. Zwei ehemalige Hara-Kiri-Leute sind ja bei dem Anschlag auf Charlie Hebdo in Paris ums Leben gekommen.

Südfrankreich ist im Sommer ein kulturelles Zentrum: Opern und klassische Musik in Aix-en-Provence …
… und das Theaterfestival in Avignon, wo auf der Bühne auch immer mehr bildende Kunst zu sehen ist. Im Zentrum meiner Reisen stehen ja immer Atelierbesuche. Diesmal war ich bei Pierre Soulages, dem französischen Maler und Grafiker, der wie viele andere Künstler früh vom Licht der Camargue angezogen wurde.  

Soulages ist Jahrgang 1919, wie geht es ihm?
Er ist auf der Höhe seiner Schaffenskraft! Er hat sich bereits in den Fünfzigern dort ein Haus gebaut, mit einem Waldgrundstück davor, deswegen sieht man bis heute von seinem Haus aus nur Bäume und das Meer. Er arbeitet weiter an jedem Tag an neuen Bildern – wie immer ausschließlich in Schwarz!

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunstwelt?
Passend zum Wald, den ich bei Soulages sah, lese ich von Cesare Leonardi »Die Architektur der Bäume«. Er zeigt, was Architektur von Bäumen lernen kann.

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Abbildung

Les Rencontres, Arles

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Christoph Amend, Herausgeber der WELTKUNST, befragt Hans Ulrich Obrist jeden Monat nach seinen Entdeckungen in der Kunst

Dieser Artikel erschien in der

WELTKUNST Nr. 118 / 2016

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Hans Ulrich Obrist in Monaco bei der Nuit Blanche

Die weiße Nacht in Monaco, bei der die ganze Stadt mit Performances bespielt wurde – zum Beispiel von Tino Sehgal, Isabel Lewis und Francesco Vezzoli

Herr Obrist, was haben Sie gesehen?

Monaco! Für mich steht es für Serge Diaghilev, den Begründer des Ballets Russes, der in seiner Jugendzeit Kurator war, Malereiausstellungen organisierte. Dann hat er beschlossen, die verschiedenen Disziplinen Musik, Tanz und Kunst über das Medium des Balletts zusammenzuführen.

Das Interdisziplinäre interessiert Sie auch.

Eben. Viele seiner entscheidenden Jahre hat Diaghilev in Monaco verbracht. Seit einiger Zeit ist Marie-Claude Beaud Direktorin am Neuen Nationalmuseum, das immer dynamischer wird. Und es gibt neuerdings eine Nuit Blanche, die ich besucht habe.

Was passiert in dieser weißen Nacht?

Die ganze Stadt wird mit Performances bespielt. Und es ist anders als in Paris, wo während der Nuit Blanche Millionen von Menschen unterwegs sind. Monaco ist ja ein überschaubarer Ort. Und Diaghilevs Präsenz war überall zu spüren. Es gab zum Beispiel ein Ballett am Himmel von Doug Aitken: Die von einem Orchester gespielte Musik wurde in der Luft durch eine Zeichnung von konzentrischen Kreisen gespiegelt, die sich immer mehr erweitert haben. Für diesen himmlischen Effekt sorgte ein Flugzeug, das quasi die Musik in andere Sphären hob. Kuratiert wurde die Nuit Blanche von Jörg Heiser gemeinsam mit Cristina Ricu­pero aus Paris und Leonardo Bigazzi aus Florenz. Wunderbar war auch die Performance von Sadaâne Afif. Er arbeitet seit Jahren mit einem Straßenmusiker aus Brooklyn zusammen, Wesley Bryon, Künstlername Mount Moon, der sämtliche Werke von Afif auswendig kann. Er hat sie auf den Straßen von Monaco gespielt.

Was genau war daran wunderbar?

Straßenmusik ist in Monaco streng verboten. Deshalb war es interessant, dass Mount Moon durch die Straßen gelaufen ist mit seiner Gitarre, von der Polizei angehalten wurde – und dann seine Künstlergenehmigung vorgezeigt hat und wieder von vorn angefangen hat. Es gab auch eine großartige interaktive Arbeit von Tino Sehgal im japanischen Garten zu sehen. Betrat man den Garten, löste die eigene Präsenz etwas Magisches aus. Plötzlich begann ein Sänger einen Song vorzutragen: Du bekamst also ein Lied gesungen!

Welches wurde Ihnen gesungen?

„Amazing“ von Kanye West. And it was amazing! Es gab eine weitere faszinierende Arbeit zwischen Gegenwartskunst und Pop: Isabel Lewis, Jahrgang 1980, nennt ihre Performances „Occasions“, Gelegenheiten. Sie hat also eine solche in einem Kongresszentrum geschaffen: eine Mischung aus Musik, Pflanzen, Düften. Es gibt ja eine Entwicklung in der Gegenwartskunst hin zu Live­erlebnissen. Auch bei Francesco Vezzoli, der eine Arbeit zu Marlene Dietrich gezeigt hat, übrigens inspiriert von Maximilian Schells legen­därem Film über die Dietrich …

… in dem man sie nie sieht, weil sie nur noch mit ihm telefonieren wollte.

Vezzoli liebt diesen Film! Einerseits hat er Fake-Porträts von Malern aus Dietrichs Epoche gezeigt, die es so nie gegeben hat, eine Marlene von de Chirico, Bacon oder Magritte. Und dann gibt es eine Zeichnung von Matisse, die nur aussieht wie sie – die aber wirklich von Matisse ist. Der Livemoment der Arbeit: Vezzoli verkleidete sich selbst als Marlene Dietrich und war stundenlang als lebende Skulptur auf seiner Ausstellung.

Und was beschäftigt Sie derzeit noch?

Das neue Buch des Dramatikers Jon Fosse. Mein Lieblingszitat: „Wenn ich schreibe, versuche ich nichts zu wissen. Ich habe keine Absicht, keinen Plan. Ich will so leer sein wie möglich. Ich schreibe nie abends, dann bin ich weich in der Seele und sentimental. Ich will kalt und klar sein.“ Keinen Masterplan zu haben interessiert mich im Zusammenhang mit Ausstellungen: Wir sollten von einer Leere ausgehen, damit es nicht nur zur Illustration von etwas kommt. 

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Hans Ulrich Obrist in Hong Kong – Millennial-Künstler

 Ein Gespräch über Hacking von Währungen, Wolkenkratzern oder Städten

Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?

Hongkong! Dazu eine kleine Vorgeschichte: Vor 20 Jahren, im Frühjahr 1996, bin ich mit Hou Hanru nach Rotterdam gefahren, um dort Rem Koolhaas zu treffen. Wir wollten ihn davon überzeugen, mitzumachen bei einer Idee, aus der später die Ausstellung »Cities on the move« wurde.

Wie kamen Sie auf Koolhaas?

Er hatte kurz zuvor eine Studie über den Bauboom im Pearl River Delta veröffentlicht. Obwohl dort lange nicht so viel los war wie heute, wurde bereits 20-mal so viel gebaut wie in einer durchschnittlichen Stadt in Europa. Wir wollten eine Ausstellung machen über diese unglaubliche Energie, die Mutation der Städte.

Und wie lief das Treffen in Rotterdam?

Es kam nicht zustande. Koolhaas hatte zu viel zu tun, er kam nur kurz vorbei und sagte: »Es ist sowieso falsch, eine Ausstellung über Asien in Rotterdam zu planen. Lasst uns lieber morgen in Hongkong treffen.« So haben Hou Hanru und ich uns Tickets nach Hongkong gekauft. Die Kunstszene war dort damals klein, nur ein paar Galerien und das Hong Kong Arts Centre. Heute gibt es die Art Basel Hong kong oder das geplante Museum M+. Jetzt habe ich erstmals eine Ausstellung dort kuratiert. Die neue K11 Art Foundation von Adrian Cheng unterstützt die Generation der Millennials, also junge Künstler, die nach dem Jahr 2000 aufgetaucht sind. Sie haben mich gefragt, ob ich mit meiner Kollegin Amira Gad und Simon Denny …

… auch ein Millennial-Künstler, der sich intensiv mit der Start-up-Szene beschäftigt …

… seine Ausstellung »Hack Space« vor Ort weiterentwickeln will.

Wie soll das geschehen?

Mit jungen Künstlerinnen aus China. Also sind Simon und ich durch China gereist und haben Ateliers besucht. Am Ende haben wir elf Künstlerinnen eingeladen. Es geht sehr viel um Shan Zhai, das chinesische Silicon Valley, in dem Hardware wie Mobiltelefone entwickelt wird. In der neuen Ausgabe von Wired war jetzt zu lesen: Nicht ­China kopiert nur den Westen, der Westen kopiert mittlerweile auch China, weil in Shan Zhai oft so gut kopiert wird, dass die Kopie besser ist als das Original.

 

Was fasziniert Sie an dem Thema Hacking?

Walter Benjamin hat beschrieben, dass wir oft das vergessen, was gerade erst vorbei ist. Hacking gibt es erst seit ein paar Jahrzehnten, seine Geschichte dokumentiert ­Simon Denny und untersucht Firmen, die aus dieser Szene kommen. Wir haben Künstler gewonnen, die Ähnliches tun. Etwa ­aaajiao, der Gründer ist und kürzlich ein Bitcoin-Placebo erfunden hat. Oder Cao Fei, die gerade im MoMA PS1 in New York ausstellt. Dann gibt es Cui Jie, eine Malerin, die sich mit dem Hacking von Gebäuden beschäftigt, und Firenze Lai, eine Malerin aus Hongkong, die die Geschichte der Occupy-Central-Bewegung dokumentiert, also Menschen, die versuchen, eine Stadt zu hacken, wenn man so will. Und Xu Qu zeigt die Schirme von Occupy.

Auch eine Geschichte, die gerade erst passiert und schon fast vergessen ist.

Die Regenschirme waren ja das Symbol der Bewegung: Xu Qu hat sie verbrannt und stellt sie als Art Skelette aus. Besonders ist auch die Arbeit von Li Liao, er hat under­cover beim Hardwarehersteller Foxconn angeheuert, der für seine schlechten Arbeitsbedingungen berüchtigt ist – Li Liao ist der Wallraff der bildenden Kunst!

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunstwelt?

Ich denke viel an die gerade verstorbene Zaha Hadid, die eine gute Freundin war. Sie war nicht nur eine geniale Architektin, sondern auch eine unglaublich einflussreiche Ausstellungsgestalterin. Wir lernten uns vor vielen Jahren in Rom kennen und sind uns immer nah geblieben.

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Hans Ulrich Obrist beim Dhaka Art Summit

Ein Besuch im Parlamentsgebäude und bei einem Gipfeltreffen der Kunst

Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?

Seit Langem wollte ich mir das berühmte Gebäude in Dhaka, Bangladesch ansehen, das Louis I. Kahn ab den Sechzigerjahren gebaut hat: das Jatiya Sangsad Bhaban, den Sitz des Nationalparlaments.

Warum interessierte Sie dieser Bau?

Es ist einer der wichtigsten Bauten der jüngeren Architekturgeschichte, ein riesiger Komplex auf 800.000 Quadratmetern. Die Planung begann 1961, damals war Bangladesch noch Ost-Pakistan. Nachdem Le Corbusier und Alvar Aalto abgesagt hatten, bekam glücklicherweise Kahn den Auftrag. Das Gebäude spielt eine große Rolle in dem Dokumentarfilm über ihn, »My Architect«, den man sich unbedingt ansehen sollte. Wegen des Bürgerkriegs um die Unabhängigkeit Bangladeschs waren die Arbeiten lange unterbrochen. Erst 1983 wurden sie abgeschlossen, neun Jahre nach Kahns Tod.

Inwiefern ist es architektonisch besonders?

Diese unglaubliche Mischung aus einer fast prähistorischen Dimension und einer sehr modernen Architektur. Der Amerikaner Kahn hat sich wirklich auf die lokale Tradition eingelassen, es gibt viele örtliche Bezüge in den Formen. Und er hat das Licht ins Zentrum seines Masterplans gerückt. Diese unglaublichen Lichtfraktionen kann man über Abbildungen gar nicht vermitteln, man begreift sie erst vor Ort, wenn man das Gebäude begehen kann. Das Innen ist dort Außen und das Außen ist Innen.

Was meinen Sie damit?

Es ist einerseits ein Bunker und andererseits sehr offen, wegen des Lichts, das von überall ins Gebäude fällt. Mir fiel sofort das Zitat von Isa Genzken ein: »More Light Research«, mehr Lichtrecherche. Genzken bezieht das natürlich auf ihr eigenes Werk, aber hier bei Kahn stimmt es auch. Was mich außerdem beeindruckt hat, ist die Leere im Gebäude, ständig sind Lücken zu sehen. Und natürlich wie schön es in die Landschaft eingefügt ist, in das Grün und an den See. Leider ist der Komplex aus Sicherheitsgründen heute komplett abgeriegelt. Man muss seinen Pass abgeben, überall sind bewaffnete Wächter zu sehen. Das ist sehr schade, weil die Architektur ja genau das Gegenteil ausdrücken wollte: eine Öffnung, eine Einladung an die Bevölkerung.

Warum waren Sie in Bangladesch?

Ich war eingeladen zum Dhaka Art Summit, das von der Familie Samdani veranstaltet wird zur Förderung zeitgenössischer lokaler und westlicher Kunst; angesichts der politischen Lage ein geradezu heroischer Akt. Das Summit ist keine Messe, sondern eine Plattform, die anschließend mit ihrem Programm tourt. Es waren Arbeiten etwa von Lynda Benglis und Tino Sehgal zu sehen. Besonders überraschend war Dayanita Singh aus Indien, die ihr »Museum des Zufalls« gezeigt hat. Ihr geht es darum, dass man Fotografie nicht nur im Museums- oder Galerieumfeld sieht, sondern für alle zugänglich macht. Sie hatte ihre portable Ausstellung mitgebracht, 88 Quadraturen, Bilder, die paarweise auf der Vorder- und Rückseite eines Buchs zu sehen sind und immer wieder neu arrangiert werden.

Sie haben mit ihr einen Talk gemacht, der im Netz zu finden ist …

Ja, unter www.dayanitasingh.com. Was mir noch wichtig ist: Bei jedem Summit wird ein junger lokaler Künstler mit einem Förderpreis ausgezeichnet, diesmal ging er an Rasel Chowdhury, dessen Fotografien die Umweltprobleme seiner Heimatstadt Dhaka dokumentieren. Der Preis wurde kuratiert vom neuen Leiter der Kunsthalle Zürich Daniel Baumann.

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunstwelt?

Ich lese das Buch des Architekten Claude Parent, der kürzlich verstarb, und seines Schülers Jean Nouvel. Darin finden Sie viele nicht realisierte Entwürfe. Deshalb heißt das Buch übersetzt »Kommende Museen«.

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Hans Ulrich Obrist unterwegs bei den "Engadin Art Talks"

Was machen gestickte Schneeflocken in der Galerie Tschudi, den italienischen Maler Giorgio Griffa und Ibrahim Mahama aus Ghana in der Schweiz?

Herr Obrist, was haben Sie gesehen?

Ich komme gerade aus dem Engadin zurück, das immer ein inspirierender Ort war und ist. Nietzsche etwa hat dort »Also sprach Zarathustra« geschrieben …

…und Sie haben eine Ihrer ersten Ausstellungen im Engadin gemacht, mit Gerhard Richter in Sils-Maria.

Ja, damals haben wir erstmals seine übermalten Fotos ausgestellt, und es ist im Verlag Walther König ein Künstlerbuch von Richter erschienen. Das Engadin ist wieder stärker in den Blick geraten. Ich fahre seit meiner Kindheit hin, und es ist wirklich wahr, dass man dort oben im Hochtal auf 2000 Metern anders denkt: Das Licht des Sü­dens trifft das Licht des Nordens, Skandina­vien trifft auf Italien. Diese Situation reizt Künstler natürlich. Und Denker wie Alexan­ der Kluge und Habermas, die jedes Jahr da sind. Der Maler Albert Oehlen hat mir er­ zählt, dass er viel Zeit im Engadin verbringt, er ist mit seinem Atelier in die Voralpen ge­zogen, nach Appenzell, dorthin, wo Robert Walser seine berühmten Spaziergänge gemacht hat.

Zuletzt hörte man vom Engadin vor allem im Zusammenhang mit dem Kunstmarkt in St. Moritz und der Eröffnung von Vito Schnabels Galerie.

Das ist ein Aspekt und gleichzeitig ist das Engadin so viel mehr! Es ist Sils­Maria, das Nietzsche­Museum, wo man bis heute seine handschriftlichen Notizen einsehen kann, auch Giacometti spielt im Engadin eine große Rolle. Es gibt neben dem Ober­ engadin auch das Unterengadin, von dort kommt der bekannteste Künstler der Gegend, der Maler und Architekt Not Vital. Er hat im Unterengadin ein architektonisches Ge­samtkunstwerk gebaut mit Pavillons, Brü­cken, Stegen. Neben Sils gibt es Zuoz, wo ich in den letzten Jahren immer hingefahren bin und im Künstlerhotel Castell gewohnt habe. Dort sind Installationen von Pipilotti Rist und von Carsten Höller zu sehen. Und seit fünf Jahren finden die »Engadin Art Talks« statt, die Daniel Baumann, Beatrix Ruf, Philip Ursprung und ich gemeinsam leiten.

Diesmal ging es um Spuren und Fragmente.

Ja, zu Gast war unter anderem der groß­artige italienische Künstler Giorgio Griffs, der in seinen minimalen Gemälden seit über 50 Jahren Spuren und Fragmente malt. Er schafft dadurch eine besondere Form von Konversation. Aus Ghana war Ibrahim Mahama da, der auf der letzten Biennale den langen Korridor gebaut hat. Im Engadin hat er gezeigt, wie er in Ghana ganze Gebäude mit Spuren und Fragmenten bedeckt – und dadurch die Häuser reaktiviert. Koo Jeong A hat mit Magneteffekten gearbeitet, und Rachel Rose hat mit Filmen neue Formen des digitalen Editierens gezeigt, also digitale Fragmente. Ich will aber noch von weiteren Eindrücken aus dem Engadin berichten. Diesmal konnte man beispielsweise in der Galerie Tschudi in Zuoz Schneeflocken ent­decken.

Schneeflocken?

Ja, von Bethan Huws, es waren ge­stickte Schneeflocken, inspiriert vom Engadin, fantastisch. Bei Tschudi ist bis Ende März eine Gruppenausstellung zu sehen, die auf die dreißig Jahre seit Gründung der Ga­lerie zurückblickt.

Sie klingen wirklich euphorisch, wenn Sie vom Engadin sprechen!

Ich kann Ihnen nur sagen: Man kann dort besser denken. Die meisten meiner Ideen kommen aus diesem Tal.

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunstwelt?

Ich lese gerade das Buch »Inside Out« des Architekten Richard Rogers, der gemeinsam mit Renzo Piano das Centre Pompidou in Paris gebaut hat. Seine Idee, dass wir eine schönere Stadt verlassen wollen als die, in die wir hineingeboren sind, hat mir sehr gefallen. Für mich ist es eine interessante Analogie zu meiner eigenen Tätigkeit, dem Kuratieren von Kunst.

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