Er war einer der größten Maler, den die Schweiz jemals hatte: Vor 100 Jahren starb Félix Vallotton, an den nun eine große Retrospektive in Lausanne erinnert. Das Porträt eines brillanten Einzelgängers und Virtuosen der Zwischentöne
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14.11.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 246
Von Félix Vallotton gibt es eine Reihe Selbstporträts. Auf dem ersten, das er mit zwanzig malt, sieht man einen jungen Mann, der ein Messdiener sein könnte, ein sensibler Pianist oder ein Lustmörder. Zwölf Jahre später, das Gemälde hängt heute im Musée d’Orsay in Paris, ist er ein melancholischer Student der Altertumswissenschaften, ein früher Adept Sigmund Freuds oder ein Bombenleger, der sein nächstes Attentat vorbereitet. Und dann, mit 39, ist er ein Bankbeamter. Oder ein Schauspieler: Dem Kunsthaus Zürich gehört ein Bild aus dem Jahr 1905, auf dem Vallotton frappierende Ähnlichkeit mit John Hillerman hat, der den nervigen Higgins an der Seite von Tom Selleck in dem Achtzigerjahre-Fernsehserienhit „Magnum“ spielte.
Es ist nicht leicht, diesen Maler einzuordnen, als Mensch, als Künstler. Félix Vallotton, Abkömmling einer alteingesessenen Familie aus der französischsprachigen Westschweiz, wurde 1865 in Lausanne geboren. Am 29. Dezember 1925, einen Tag nach seinem sechzigsten Geburtstag, starb er in Neuilly bei Paris – eine Operation, eigentlich Routine, war schiefgelaufen. Seine Winterthurer Freundin und Sammlerin Hedy Hahnloser-Bühler schrieb in ihrem Nachruf, sein Tod sei „auch für Nahestehende völlig unerwartet“ gewesen und habe „in den Kunstkreisen des In- und Auslandes aufrichtige Trauer hervorgerufen“. Um an seinen hundertsten Todestag zu erinnern, haben vier Museen in der Schweiz 2025 die „Année Vallotton“ ausgerufen.
Den Anfang machte im Januar das Musée Jenisch in Vevey, das für „Félix Vallotton. Un hommage“ Werke aus der eigenen Sammlung und der des Genfer Musée d’art et de histoire mit Arbeiten junger zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstlern kombinierte. In Winterthur, der Stadt, in der Vallotton zu Lebzeiten besonders stark gefördert wurde, zeigte das Kunst Museum dann unter dem vielsagenden Titel „Félix Vallotton. Illusions perdues“ mit 150 Gemälden und Grafiken eine großangelegte Schau aus allen Phasen seines Schaffens. Außerdem läuft dort in der Villa Flora, einer Dependance des Kunst Museums, noch bis 1. März 2026 die Ausstellung „Nedko Solakov. Being Vallotton“, in der sich der gebürtige Bulgare, einer der bedeutendsten europäischen Konzeptkünstler der Gegenwart, als Bewunderer des Malers zu erkennen gibt. Landschaften, Akte und Stillleben Vallottons rückten von Mai bis September in Ascona in den Mittelpunkt, wobei das Museo Castello San Materno auf der Öffentlichkeit lange verborgene Arbeiten aus Privatsammlungen zurückgreifen konnte. Und zu guter Letzt findet ab Oktober in seiner Geburtsstadt Lausanne im Musée cantonal des Beaux-Arts die Retrospektive „Vallotton Forever“ statt. Sie bildet mit über 200 Arbeiten den krönenden Abschluss des Jubiläumsjahres 2025. Leihgaben kommen aus aller Welt: London und New York, Paris, Amsterdam und Tokio.
Das alles ist gut und lange überfällig, schließlich ist Félix Vallotton nicht nur ein von Rätseln umwobener Einzelgänger der europäischen Moderne – er war auch einer der größten Maler seiner Zeit, den man als Interpret der zwiespältigen, abgründigen bürgerlichen Welt ohne Zweifel auf eine Stufe stellen kann mit Edvard Munch oder dem (freilich deutlich älteren) Dramatiker Henrik Ibsen. „Im Grunde“, sagt Katia Poletti, die Kuratorin der Fondation Félix Vallotton, die gerade das Werkverzeichnis der Zeichnungen und Grafiken herausgebracht hat, „war Vallotton ein Anarchist – ein diskreter Anarchist, aber immerhin ein Anarchist.“