Diane Arbus

„Sie glaubte an die Macht des Augenblicks“

Bilder von gnadenloser Ehrlichkeit: Der Berliner Gropius Bau würdigt die amerikanische Fotografin Diane Arbus in einer großen Ausstellung. Wir sprachen dort mit Neil Selkirk, der nach Arbus’ Tod ihr Werk sichtbar machte

Von Nick van der Velden
19.11.2025

Wir sitzen hier zwischen all den Abzügen, die Sie von Diane Arbus’ Negativen entwickelt haben. Wieviel von ihrer Persönlichkeit ist in ihren Bildern?

Ihre Arbeit ist kein Ausdruck ihrer Persönlichkeit. Es geht überhaupt nicht um sie, was sie sehr ungewöhnlich macht. Die meisten Künstler beziehen sich in irgendeiner Weise auf ihr Leben und ihre Interessen. Diane fotografierte, weil sie die Fotografie liebte und weil sie glaubte, dass sie Dinge zeigte, die ohne ihre Bilder nicht zu sehen wären. Und sie hatte Recht, denn die Bilder waren das Ergebnis ihrer intellektuellen Fähigkeiten und ihres Instinkts, das spürte sie auch. Es ging ihr nicht darum zu sagen: „Seht, was ich kann“, sondern sie wollte eher zeigen: „Schaut, was mich interessiert.“ Aber das hatte mit ihrem Leben direkt nichts zu tun. Es hatte alles mit ihrer intellektuellen Faszination für das Menschliche zu tun.

Was sagt ihr Interesse an den Menschen, als Hauptantrieb ihrer Arbeit, über die Fotokünstlerin Diane Arbus aus?

Dass wir froh sein können, dass sie sich für die Fotografie entschieden hat.

Im Jahr 1970 lieh sich Diane Arbus vom Fotografen Hiro, für den Sie damals als Assistent arbeiteten, die erste Pentax im Mittelformat 6 x 7 aus, die es aus Japan in die USA geschafft hatte. So lernten Sie sich kennen. Die technische Umstellung war ein wichtiger Einschnitt in ihrer Arbeit. Wie beeinflusste Kameratechnik ihre künstlerische Arbeit.

Als sie 1962/63 vom 35-mm-Format zu 6 x 6 wechselte, bedeutete das eine große Veränderung in ihrer Arbeit. Der Formatwechsel war für sie ein schmerzhafter Prozess, und während dieser Zeit hatte sie das Gefühl, gar nicht mehr fotografieren zu können. Bezeichnenderweise veränderte sich dadurch auch die Beziehung zu ihren Bildern. Sie ging im Umgang mit Kameras sehr systematisch vor und wusste genau, was die unterschiedlichen Apparate leisteten und welche Art von Bildern sie damit aufnehmen konnte. In einem eigenen Ordner sammelte sie Broschüren zu allen möglichen Kameras und suchte hier immer wieder nach dem passenden Gerät, mit dem sie ihre Vorstellungen umsetzen konnte. Sie befand sich mitten in so einer technischen Übergangsphase, als sie sich das Leben nahm. Interessanterweise ähneln die Bilder, die sie 1971 mit der großen Pentax  6 x 7 aufnahm, sehr stark denen, die sie in den Fünfzigern mit der Kleinbild-Nikon auf 35 mm gemacht hatte. Bezeichnenderweise waren beide Kameras in der Bedienung fast identisch.

Diane Arbus, Untitled (4) 1970-71
Diane Arbus, Untitled (4) 1970-71. © The Estate of Diane Arbus, Collection Maja Hoffmann/LUMA Foundation

Wie haben Sie Arbus’ Selbstmord erlebt?

Es war sehr schockierend. Ich war in Paris und hätte nie gedacht, dass so etwas passieren könnte. Es war einfach ein sehr, sehr großer Schock. Völlig aus heiterem Himmel.

Arbus’ Werdegang begann in der Modefotografie. Erste Aufträge erhielt sie von ihrem Vater, der das Kaufhaus Russek’s in New York besaß. Wie wurde sie die Künstlerin, deren Werke wir hier im Gropius Bau sehen?

Sie lernte ihren Ehemann Allan Arbus kennen, als er in der Werbeabteilung bei Russek’s arbeitete. Beide interessierten sich sehr für Fotografie.

Fotografierten die beiden damals auch selbst?

Sie machten jeweils eigene Fotos. Sie gingen zu Alfred Stieglitz’ Galerie „An American Place“. Ich bin mir nicht ganz sicher, wann genau das alles passiert ist, aber beiden haben Stieglitz ihre Bilder mehr als einmal gezeigt. Sie wollten seine Meinung hören, da war sie noch sehr jung, vielleicht kurz vor 20. Die Fotos, die offiziell Diane und Allan zugeschrieben werden, hat sie nicht gemacht. Die waren von ihm. Sie hatte nie Interesse an den gemeinsamen kommerziellen Bildern, ihre Rolle in der Partnerschaft war die der Stylistin. Lustigerweise habe ich gestern Abend mit Doon, ihrer Tochter, darüber gesprochen, und sie sagte, ich hätte das völlig falsch verstanden. Alle denken, ich auch, dass die Modewelt sie langweilte. Doon widersprach. In Wirklichkeit sei es so gewesen, dass sie sich dadurch herabgesetzt fühlte. Was man dort von ihr verlangte, fand sie dumm. Deshalb wollte sie aussteigen. Sie hatte das Gefühl, ihr Potenzial zu verschwenden. Und dass es andere Dinge gab, die sie tun wollte. Woraus dann all das hier entstand.

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