Bilder von gnadenloser Ehrlichkeit: Der Berliner Gropius Bau würdigt die amerikanische Fotografin Diane Arbus in einer großen Ausstellung. Wir sprachen dort mit Neil Selkirk, der nach Arbus’ Tod ihr Werk sichtbar machte
ShareStatt Schönheit suchte sie Wahrheit und fand sie dort, wo andere lieber wegsahen: Diane Arbus fotografierte Drag-Darstellende, Klein- und Großwüchsige, Nudisten, alte Witwen, Außenseiter. Sie ist eine der bedeutendsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Im Berliner Gropius Bau ist bis 18. Januar 2026 die bislang umfassendste Retrospektive ihres Werks in Deutschland zu sehen. Nach Stationen in Arles und New York vereint die Schau 454 Aufnahmen aus drei Jahrzehnten. Die Architektur aus schwarzen Gitterwänden, an denen die Bilder hängen, erschließt das Werk ohne chronologische oder thematische Ordnung. In labyrinthischen Verstrebungen fühlt sich der Rundgang ein wenig wie ein Streifzug durch die Gehirnwindungen der Künstlerin an.
Diane Arbus (1923–1971), in New York geboren, begann als Modefotografin im Kaufhaus ihres Vaters, bevor sie sich in den Fünfzigern von Welt des Glamours abwandte. Ihre berühmte Serie „Identical Twins“ oder das beklemmende Porträt „A Jewish Giant at Home with His Parents“ zeigen Menschen, die in ihrer Eigenart zugleich verletzlich und souverän wirken. Ihre Fotografien sind keine Zurschaustellungen, wie es ihr Susan Sontag vehement vorwarf, sondern Begegnungen – manchmal gnadenlos, aber immer von radikaler Ehrlichkeit getragen. Es ist das Reale, das Faktische, das oft erschreckend wirkt, aber alle ihre Bilder sind voller Humanität: Fragmente einer größeren menschlichen Wahrheit, Spuren des Lebens, die sich einbrennen. Beim Verlassen der Ausstellung bleibt ein eigentümliches Schweigen – nicht deprimierend, sondern klar. Arbus litt immer wieder unter starken Depressionen, 1971 nahm sie sich das Leben.
Neil Selkirk, Jahrgang 1947, der nach Arbus’ Tod exklusiv für die Entwicklung der Abzüge zuständig war, hat sich so intensiv wie niemand sonst in Arbus‘ Arbeit in der Dunkelkammer versenkt. Sein Anspruch ist, dass seine Abzüge von ihren nicht zu unterscheiden sind. Wir trafen Selkirk in der Ausstellung und sprachen mit ihm darüber, was Arbus’ Fotografie so einzigartig macht.
Neil Selkirk: Ich denke, es ist die Art, wie sie sich die Dinge aneignet. Wie sie das Alltägliche in etwas Metaphorisches und Episches verwandelt. Ich glaube, dass sie bei der Suche nach Motiven im Wesentlichen nach etwas gesucht hat, das ein großartiges Foto ergeben könnte. Und ein außergewöhnliches Bild ist eines, das über den Bildausschnitt hinaus spricht. Das andeutet, dass dahinter viel mehr steckt, was zum Nachdenken anregt.
Sie war der Meinung, dass die Wunder der realen Welt, wenn sie direkt und unverfälscht festgehalten werden, weitaus interessanter sind als Konstrukte des menschlichen Geistes. Sie wollte dem Bild nicht vorschreiben, wie es zu sein hat. Sie glaubte an die Macht des Augenblicks, der uns schon dazu führt, das Bild zu verstehen.