Charlotte Perriand

Eine glückliche Frau

Die Kunstmuseen Krefeld widmen der visionären Gestalterin Charlotte Perriand eine große Retrospektive. Endlich erhält sie so auch in Deutschland die Aufmerksamkeit, die sie verdient

Von Valerie Präkelt
28.10.2025
/ Erschienen in WELTKUNST NR. 246

Dass Le Corbusier ein komplizierter, egomanischer Charakter war, der mit der Geste des Genies wandelte und handelte, ist längst bekannt. Auf seiner Beerdigung soll der Schriftsteller André Malraux gesagt haben, dass niemand je so lange beleidigt war wie der Architekt. Charlotte Perriand aber betonte immer wieder, wie entscheidend die Jahre in seinem Studio für ihre Entwicklung waren, erläutert Katia Baudin. „Sie hat dort Freundschaften geknüpft, die sie ihr ganzes Leben lang begleitet haben. Und sicherlich auch seine Grundprinzipien der Architektur verinnerlicht.“ Im Oktober 1935 kriselte es, Perriand schrieb Le Corbusier einen Brief: „Ich finde mich Ihnen gegenüber immer wieder in dieser Lage, Initiativen, die ich ansonsten ergreifen könnte, aufzugeben. Offen mit Ihnen zusammenzuarbeiten ist schwierig; auch wenn wir ähnliche Ziele haben, gehen wir von verschiedenen weltanschaulichen Vorstellungen aus. Aber ich zweifle nicht daran, dass wir eines Tages zusammenkommen werden.“ Auch von Le Corbusier sind Briefe überliefert, die er an Perriand und Jeanneret adressierte, die ein Paar waren – doch es ist wenig darüber bekannt, wie lange die Liaison bestand. „Sie reden immer nur von der Mannschaft. Aber unter der Bedingung, dass sie allein die Ihre ist, in der Sie alleine befehlen“, schrieb Le Corbusier an die beiden. „Geben Sie zu, dass Sie nicht über fünfunddreißig Jahre Erfahrung verfügen. (…) Haben Sie diese Schöpferkraft? Nein, Sie übernehmen die Effekte.“ Im Jahr 1937 verließ Perriand schließlich das Atelier. Es hieß, dass auch politische Differenzen – Le Corbusier begeisterte sich bereits für faschistische Ideen – dabei eine Rolle spielten.

Dass Le Corbusier und Pierre Jeanneret bei Weitem nicht die einzigen Kreativen in ihrem Umfeld waren, hebt die Krefelder Schau hervor: Da waren Josep Lluís Sert, Fernand Léger, Jean Prouvé, Sori Yanagi, und Sonia Delaunay. „Charlotte Perriand hat sich nie als Star betrachtet. Sie wollte von anderen Gebieten lernen und schätzte die Kollaboration“, erzählt Katia Baudin. Besonders Léger sei ihr sehr vertraut gewesen. „Sie war gesellschaftspolitisch sehr engagiert und überzeugte Kommunistin, was sie mit Léger verband. Als sie in die Sowjetunion reiste und sah, unter welchen Umständen die Menschen lebten, war sie nicht mehr so überzeugt, blieb aber trotzdem vom sozialistischen Gedanken begeistert.“ Perriand ist es immer darum gegangen, den Wohnraum und damit den Alltag der Menschen zu verbessern, etwa mit der Konzeption von nur 14 Quadratmeter großen Minimalbehausungen. Als 1936 in Frankreich ein neues Gesetz für bezahlten Urlaub verabschiedet wurde, entwickelte Perriand kleine, industriell vorgefertigte und preiswerte Wochenendhäuser, damit die Auszeit auf dem
Land nicht mehr nur den wohlhabenden Stadtbewohnern vorbehalten war. Sie selbst liebte die Berge, fuhr Ski und wanderte, sammelte Steine, Muscheln und Holz und nannte ihre Fundstücke „Art brut“.

Wohnung von Charlotte Perriand
Auf der Brüsseler Weltausstellung 1935 stellten Perriand, Le Corbusier und Jeanneret diese kleine Wohnung vor. © Vandenberghe/ Archives Charlotte Perriand/FLC, VG Bild-Kunst, Bonn, 2025

Während man sich heute vor allem an ihre Stahlrohrmöbel erinnert, sind es die organischen Holzmöbel, darunter der Tisch, den sie für ihre eigene Wohnung in Montparnasse entwarf, die ihre Emanzipation vom International Style, dieser funktionalistischen, sachlichen Art des modernen Bauens, markieren. Die Zusammenarbeit mit Le Corbusier und Jeanneret inspirierte sie, aber sie hatte eine eigene, weichere, bisweilen poetische Formsprache, die immer dann zum Vorschein kam, wenn sie mit Holz arbeitete. 1940 entwarf sie das beidseitige Regal „Nuage“, das als Raumtrenner und als Wandregal funktioniert. Die Aluminiumtüren lassen sich verschieben, sodass der Benutzer oder die Benutzerin spielerisch mitentscheiden kann, wie das Regal aussieht. Aus heutiger Perspektive mögen kleine Konfigurationen wie diese kaum erwähnenswert erscheinen, aber dass Perriand den Möbelkäufern ein (wenn auch minimales) Mitbestimmungsrecht einräumte, war damals fortschrittlich.

Am 15. Juni 1940 bestieg Perriand ein Schiff nach Japan, eine Woche später kapitulierte Frankreich mit dem Waffenstillstand von Compiègne vorerst vor Nazi-Deutschland. Ihr
ehemaliger Kollege Junzo Sakakura hatte in die Wege geleitet, dass sie fortan das japanische Handelsministerium beriet. „Sie sollte den Industriellen helfen, exportfähiges In-
dustriedesign zu entwerfen“, erklärt Katia Baudin. „Als sie sich anschaute, was dort gemacht wurde, sah sie dekorativ verzierte Sachen ,für den Westen‘ und daneben viel schlichtere Erzeugnisse, die die japanischen Kunsthandwerker für den einheimischen Gebrauch fertigten.“ Das habe sie viel spannender und zeitgemäßer gefunden. In Japan begeisterte sich Perriand für die Einfachheit der Raumgestaltung. Für die Ruhe, das Negativ und den Hohlraum. „Wollen wir Fülle oder Leere? Die Frage mag auf den ersten Blick absurd erscheinen, ist aber keineswegs belanglos. Für die einen bedeutet Leere ein Nichts oder Mangel; für die anderen ist sie ein Raum zum Denken, zum Bewegen“, schrieb sie 1950 in einem Aufsatz.

Les Arcs von Charlotte Perriand
Die Wohnanlage „Les Arcs“ in den Alpen entwarf sie Ende der 1960er, die Fertigstellung dauerte rund 20 Jahre. © Pernette Perriand Barsac/Archives Charlotte Perriand

Berechtigterweise wird heute kritisch reflektiert, inwiefern sich westliche Gestalter Formsprachen anderer Kulturkreise angeeignet haben. Von Perriand kann man das nicht behaupten. „Anders als andere Gestalter der Moderne hebt sie nicht nur ihre eigene Sicht hervor. Das war auch der Fall in Hanoi, wo sie eine Ausstellung kuratiert hat und zeigte, was für Kunsthandwerk sie im damaligen Indochina besonders fand“, sagt Museumsdirektorin Baudin. Als sie später einen Editionsvertrag mit der Pariser Galerie Steph Simon unterzeichnete, stellte sie in von ihr kuratierten Schauen immer wieder japanische Designer wie Isamu Noguchi oder Sori Yanagi aus. Perriand war zweimal verheiratet: mit Anfang zwanzig, dann mit vierzig, als sie in Hanoi Jacques Martin kennenlernte und heiratete. In Vietnam wurde, inmitten des Kriegs, 1943 ihre Tochter Pernette geboren, die ihr Erbe verwalten wird. Drei Jahre später kehrte die kleine Familie ins befreite Frankreich zurück. Für Le Corbusiers Wohnmaschine „Unité d’habitation“ in Marseille entwarf sie den Prototypen einer offenen Küche. Ihr Opus magnum ist aber das Skiresort „Les Arcs“. Vom Entwurf in den späten Sixties bis zur Fertigstellung der stufenförmigen Wohnanlage in den französischen Alpen dauerte es mehr als zwanzig Jahre.

Charlotte Perriand starb 1999 im stolzen Alter von 96 Jahren. Ihr Leben ist in Bildern dokumentiert, weil sie viel, gern und gut fotografiert hat. Dabei versteckte sie sich nicht nur hinter der Linse. Es gibt zahlreiche Fotos von ihr, und viele zeigen eine freie Frau. Eine, die etwa mit nacktem Rücken auf dem Gipfel steht und die Arme in die Höhe reißt. Auf allen Fotos lächelt sie in die Kamera: Man muss sich Charlotte Perriand als glücklichen Menschen vorstellen. Ihr Werk, in das man in Krefeld eintauchen kann, erscheint noch reicher, wenn man ihre Geschichte kennt. Leider gibt es derzeit keine deutsche Übersetzung ihrer Autobiografie „Une vie de création“, ihr dreibändiges Werkverzeichnis bei Scheidegger & Spiess reicht bis 1968. Die Kunst des Wohnens war laut Perriand übrigens ganz simpel: „Ein Zuhause ist kein Museum“, glaubte sie. „Dort soll es einem gefallen, und das kann es nur, wenn man das Altmodische mit dem Modernen zusammenbringt, das Handwerkliche mit dem Design, den Kastanienholzsessel, den Sie aus dem letzten Urlaub in Ariège mitgebracht haben, japanische Schalen, die Sie als Massenware im Kaufhaus erstanden haben, und die alte Kaffeemühle vom Flohmarkt.“ Man kann von dieser Visionärin noch immer viel lernen.

Charlotte Perriand
Eines ihrer bekanntesten Möbel ist das beidseitige Bücherregal, hier eine Version von 1953. © Musee d’art modern et contemporain de Saint-Etienne Metropole/VG Bild-Kunst, Bonn, 2025

Service

AUSSTELLUNG

„Charlotte Perriand. L’Art d’habiter / Die Kunst des Wohnens“,

Kunstmuseen Krefeld,

2. November bis 15. März 2026

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