Eine Ausstellung in der Wiener Albertina erinnert an die Hagengesellschaft, die dem Haus bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein Konvolut von über 800 Zeichnungen vermachte
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22.07.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 243
Großstadtmenschen kennen diese Situation nur zu gut: Dem Versuch, die vollgestopfte Straßenbahn zu verlassen, streben massive Beharrungskräfte entgegen – niemand tritt zur Seite, um den Weg frei zu machen. Dieses Phänomen gab es schon im Wien des Jahres 1893, wie eine entsprechende Zeichnung zeigt. Der Künstler Karl Müller nahm mit ihr an einem Wettbewerb zum Thema „Aussi möcht i!“ (auf Deutsch: „Hinaus möchte ich“) teil. Ausgelobt wurde der Wettbewerb von der Hagengesellschaft.
Ab 25. Juli präsentiert die Albertina in einer Ausstellung „Die Wiener Bohème. Werke der Hagengesellschaft“. Kuratorin Elisabeth Dutz versammelt Papierarbeiten dieser losen Künstlervereinigung, die zu den Wegbereitern der Wiener Moderne gehörte. Mitglieder der Hagengesellschaft gründeten später die Secession und den weniger bekannten Hagenbund.
Dass ihre Ursprünge ausgerechnet in den Feiern zu einem Thronjubiläum – dem 100. von Kaiser Joseph II. – liegen, passt ebenso ins Wien-Klischee wie die Tatsache, dass sie organisch mit einem Kaffeehaus verwachsen war. Am 30. November 1880 gründeten Kunststudenten nach dem Festzug zu Ehren des Kaisers einen informellen Künstlerkreis. Treffpunkt war Zum blauen Freihaus, nach dessen Besitzer Josef Haagen man sich benannte (ein „a“ fiel weg). Bald zog die Runde auch ins benachbarte Café Sperl, das mit seinen knarrenden Böden bis heute ein Refugium der Wiener Bevölkerung ist. Dort saßen sie, diskutierten und zeichneten: Kunststudenten wie Rudolf Bacher, Wilhelm Bernatzik, Josef Engelhart, Maximilian Lenz, Sigmund Walter Hampel, Rudolf Konopa, Ernst Payer, Alfred Roller, Leopold Stolba und viele andere, aber auch junge Musiker, Beamte und Schriftsteller. Zunächst fertigten sie ihre Werke auf einem großen Marmortisch. Die Kunst bestand nur für einen Abend, denn der Tisch wurde zu Lokalschluss wieder abgewischt. Später arbeiteten sie auf Papier. Sie sammelten die Werke in einer Ledermappe, einem Geschenk des Sperl-Besitzers. Ein Konvolut von 800 Arbeiten überreichten sie 1905 der Albertina.
In der aktuellen Schau offenbart sich vor allem der Humor der Hagengesellschaft. Gerne karikierte man sich gegenseitig, erschuf Fantasietiere und symbolistisch angehauchte Szenen oder ironisierte Strömungen der Moderne in sogenannten „Farbenscherzen“, wie etwa den Impressionismus in Adolf Boehms „Tänzerin mit Tamburin“. Auch ornamentale Pflanzenformen, wie sie den Jugendstil prägen sollten, zeigen sich in diesen Werken, die vor allem in den 1890er-Jahren entstanden. Und immer wieder: Alltagszenen einer boomenden Großstadt sowie Kaffeehausgäste jeder Gesellschaftsschicht. 37 Künstler sind in der Ausstellung zu sehen. Obwohl Albertina-Direktor Ralph Gleis im Katalog die Heterogenität der Hagengesellschaft lobt, so war doch keine einzige Frau darin vertreten. Dennoch lässt sich in der Schau, die auf gründlichen Forschungen basiert, ein wesentliches Kapitel des Vorabends der Wiener Moderne erkunden.
„Wer seine Augen eine Stunde lang gut unterhalten will, gehe jetzt in die Albertina“, schrieb der Kunstkritiker Ludwig Hevesi anlässlich der ersten Präsentation der Hagengesellschaft-Alben in der Albertina 1905; dort flimmere es „von einer kunterbunten, pudelnärrischen, höchst nichtoffiziellen Kunst“. Einen Einblick davon bekommt man auch 120 Jahre später.
„Die Wiener Bohème. Werke der Hagengesellschaft“
Albertina, Wien,
25. Juli bis 12. Oktober 2025