Bild des Tages

Das Leben der Charlotte Salomon

Die Malerin Charlotte Salomon erzählt in „Leben? oder Theater?“ ihre Lebensgeschichte. In nur achtzehn Monaten schuf sie fast achthundert Gouachen, die aktuell im Münchner Lenbachhaus zu sehen sind

Von Lisa-Marie Berndt
12.04.2023

Nachdenklich wirkt die junge Frau, die auf dem verschlossenen Koffer sitzt. Die Arme verschränkt, den Kopf geneigt, als würde sie einen Moment innehalten. Zwei Koffer sind bereits gepackt, ein weiterer steht mit geöffnetem Deckel auf dem Bett vor ihr, wartet darauf, mit Habseligkeiten befüllt zu werden. Doch die junge Frau wird nicht zu einer Reise aufbrechen, zu keiner, von der sie zurückkehren wird.

Charlotte Salomon wird 1917 in Berlin geboren. Sie wächst in gutbürgerlichen Verhältnissen auf, besucht die Kunstakademie. Doch dann kommt das Jahr 1933, die Machtübernahme der Nazis. Salomon, die Jüdin ist, flüchtet sechs Jahre später nach Villefranche-sur-Mer, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Nizza, wo ihre Großeltern im Exil leben. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs begeht Salomons Großmutter Selbstmord, da war sie selbst erst 24 – und erfährt, dass auch ihre Mutter 1926 auf diese Weise aus dem Leben schied. In einem Brief an ihren Vater schreibt sie: „Mein Leben begann, als meine Großmutter beschloss, sich ihres zu nehmen, als ich herausfand, dass die ganze Familie meiner Mutter dasselbe tat, als ich herausfand, dass ich die einzige Überlebende bin, und als ich die gleiche Neigung tief in mir spürte, die Sehnsucht nach Verzweiflung und Tod.“ Als deutsche Truppen im Juni 1940 weite Teile Frankreichs besetzen, kommen Salomon und ihr Großvater zunächst in ein Internierungslager, werden jedoch kurz darauf aufgrund des fortgeschrittenen Alters ihres Großvaters wieder freigelassen. Ein Refugium findet Salomon in einer kleinen Pension auf der Halbinsel Cap Ferrat. Unter der südfranzösischen Sonne beginnt sie, ihre Lebensgeschichte künstlerisch zu verarbeiten. In nur achtzehn Monaten entsteht so zwischen den Jahren 1940 bis 1942 „Leben? oder Theater?“, ein Konvolut an 769 Blättern. Das von ihr so genannte „Singespiel“ besteht aus drei Akten und enthält Zeichnungen, Textzeilen sowie szenische Anmerkungen. Hier erklärt sie: „Und mit traumerwachten Augen sah sie all die Schönheit um sich herum, sah das Meer, spürte die Sonne und wusste, dass sie für eine Weile von der menschlichen Oberfläche verschwinden und jedes Opfer bringen musste, um ihre Welt aus der Tiefe neu zu erschaffen.“

Charlotte Salomon wird 1943 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. „Leben? oder Theater?“ ist das Lebenswerk der jungen Künstlerin. Das Münchner Lenbachhaus widmet ihr noch bis zum 10. September eine gleichnamige Ausstellung. Diese, wie auch das Konvolut, das seit 1971 vom Jüdischen Museum in Amsterdam aufgearbeitet und verwaltet wird, gibt auf einzigartige Weise Aufschluss über Salomons spannungsvolles Leben.

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