Berlin Biennale

Lange Schatten

Die Verbrechen der Sklaverei und des Kolonialismus wirken nach bis in die Gegenwart, wie die 12. Berlin Biennale in einer düsteren Schau zeigt

Von Tim Ackermann
17.08.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 202

In Ðàos Welle zu versinken wäre potenziell tödlich. Als Friedhof droht der Ozean zudem in einem Malereizyklus der Kalifornierin Calida Garcia Rawles, der am Hanseatenweg und im Hamburger Bahnhof zu sehen ist. Die lichtdurchfluteten Bilder zeigen schwarze Körper im blauen Meer, aber natürlich klingen im sommerlichen Badeidyll Erinnerungen an die berüchtigte middle passage der Sklavenschiffe über den Atlantik an, die viele Gefangene nicht überlebten. Einzelschicksale geraten im Hamburger Bahnhof stärker in den Blick: In einem großartigen Film macht der französische Künstler Layth Kareem das Wrack eines Jeeps in Kabul, in dem ein Bombenanschlag verübt wurde, zum Therapieort für die Hinterbliebenen.

Bewegend ist auch die Videoinstallation „Oh Shining Star Testify“ (2019–2022) von Basel Abbas und Ruanne Abou-Rahme über einen palästinensischen Teenager, der nachts beim illegalen Durchqueren eines Grenzzauns von israelischen Soldaten erschossen wurde. Neben dieser deutlichen Israelkritik sind in der Ausstellung auch Werke zu sehen, die Probleme in arabischen Staaten thematisieren: So zeigt Amal Kenawys Video „Silence of Sheep“ eine Performance in Kairo 2010, bei der eine Gruppe von Gelegenheitsarbeitern und Künstlern auf allen vieren über die Straße krabbelte, bevor diese Kunstaktion von einem Mob gewaltbereiter Männer rüde gestoppt wurde. Antisemitismus, wie er unlängst auf der Documenta zu sehen war, wird man auf der Berlin-Biennale nicht finden: An den Holocaust und die Gewalt gegen Juden erinnert Zuzanna Hertzberg in den Kunst-Werken mit großen Textilbannern, in denen sie die Widerstandskämpferinnen des Warschauer Ghettos würdigt.

Der Ausstellungsteil in den Kunst-Werken ist sehr spannend, weil viele Arbeiten aus feministischer Perspektive auf die Welt blicken. Nil Yalter macht den Sexismus in einem französischen Frauengefängnis zum Gegenstand von Zeichnungen, und Mathieu Pernot hat in einfühlsamen Fotografien über 20 Jahre das Leben einer Romnja-Patriarchin und ihrer Familie begleitet. Harte und bittere Lektüre ist Ariella Aïsha Azoulays Dokumentarmaterial zu den Vergewaltigungen von Berliner Frauen durch Soldaten der russischen Armee nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Dass der weibliche Körper allzu oft Gewalt erfährt, ist auch Mayuri Chari aus Goa sehr bewusst, und sie protestiert dagegen, indem sie in ihrer Arbeit „I Was Not Created for Pleasure“ (2022) getrocknete Kuhfladen zu Vulven formt und an die Wand hängt. Den Satz „My Body, My Freedom“ hat sie daneben auf ein Leinentuch gestickt.

Noel W Andersons „Hood Dreams I“ (2019–2021) ist neben Calida Garcia Rawles’ Malerei „Hide Tide, Heavy Armor“ (2021) zu sehen. © Laura Fiorio

Wechselseitige Kulturaneignung ist anschließend ein Hauptthema im Ausstellungsteil am Pariser Platz (Akademie der Künste): Gemälde deutscher Expressionisten, die afrikanische Kunstwerke wie Masken oder Statuen zeigen, werden hier mit Kruzifixen kontrastiert, die im 20. Jahrhundert von unbekannten afrikanischen Künstlerinnen und Künstlern geschaffen wurden. Fragen nach vermeintlicher Authentizität und dem Stellenwert von Objekten in Gesellschaften werden aufgeworfen. Letzteres thematisiert auch der Film „Dream Your Museum“ (2022), den die Inderin Khandakar Ohida über ihren sammelwütigen Onkel gedreht hat.

Am Berlinale-Standort der ehemaligen Stasi-Zentrale in Lichtenberg beschäftigen sich dann Künstler wie Omer Fast oder Zach Blas in ihren Arbeiten passend mit dem Thema der allgewärtigen Videoüberwachung. Heraus ragt hier jedoch ein Fotozyklus des Künstlers Ngô Thành Băc, der sich vor alten sozialistischen Denkmälern in Hanoi im Kopfstand porträtiert hat. Auch das lässt sich als Form des stillen Widerstands begreifen: Mit einer kleinen ironischen Geste dreht sich eine ganze Weltsicht um. 

Service

AUSSTELLUNG

„Still Present! 12. Berlin Biennale“,

diverse Orte in Berlin,

bis 18. September

12.berlinbiennale.de

 

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