Berlin Biennale

Lange Schatten

Die Verbrechen der Sklaverei und des Kolonialismus wirken nach bis in die Gegenwart, wie die 12. Berlin Biennale in einer düsteren Schau zeigt

Von Tim Ackermann
17.08.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 202

Widerspruch muss nicht laut sein: Still steht eine Frau in der großen Halle der Berliner Kunst-Werke. Um die Hüften hat sie ein Wickeltuch geschlagen, ihr Oberkörper ist nackt. In den Händen hält sie einen menschlichen Schädel. Wörter sind auf ihren Körper geschrieben: „Gesichtsfarbe V“ liest man auf ihrem Bauch. Die Sprache einer vermeintlich objektiven Wissenschaft.

Die Skulptur von Deneth Piumakshi Veda Arachchige ist ein 3-D-Druck ihres eigenen Körpers, den sie mit einem clever gewählten Titel versehen hat: „Selbstporträt als Restitution – aus feministischer Sicht“ (2020). Wie persönlich nehmen wir eigentlich das Thema Raubkunst? Das ist die Frage, die uns die 1980 in Kurunegala auf Sri Lanka geborene Künstlerin stellt. Sie hat zu ihren Ahninnen und Ahnen recherchiert, den indigenen Adivasi, deren Gebeine nach Europa gebracht wurden, wo sie bis heute in Museen aufbewahrt werden. Die Institutionen sperren sich gegen eine Rückgabe. Wie mächtig der Blick weißer Wissenschaftler und Künstler ist, wie sehr er vor allem women of color zu Objekten degradiert – das macht die Skulptur in den Kunst-Werken deutlich.

Berlin Biennale Deneth Piumakshi Veda Arachchige
Mit ihrem „Selbstporträt als Restitution – aus feministischer Sicht“ (2020) kritisiert Deneth Piumakshi Veda Arachchige westliche Forscher. © Silke Briel

Wir sind schon mittendrin in dieser zwölften Berlin Biennale, die stärker als jede Ausgabe zuvor den Blick auf die historischen Verbrechen des Westens richtet. Sklaverei und Kolonialismus haben das Leid über den Globus gebracht, erklärt der Künstler Kader Attia, der die Ausstellung in diesem Jahr kuratiert hat, in seinem Statement: „Die Welt ist von den Wunden gezeichnet. Werden sie nicht repariert, suchen sie unsere Gesellschaften weiter heim.“ Alte Unterdrückungsmechanismen bleiben bestehen, Traumata werden vererbt. Die Vergangenheit nimmt Einfluss auf Gegenwart und Zukunft. Dieser Blick führt zwangsläufig zu einer eher düsteren und doch hochspannenden Ausstellung.

Den Finger derart in die Wunden der Welt zu legen, kann aber auch heftige Schmerzen verursachen: In einem offenen Brief protestierten unlängst die auf der Biennale ausstellenden irakischen Künstler Sajjad Abbas, Layth Kareem und Raed Mutar dagegen, dass ein Werk des Franzosen Jean-Jacques Lebel in der Ausstellung drastische Folterfotos aus dem vom US-Militär betriebenen Gefängnis Abu Ghraib verwendete. Die drei irakischen Künstler sahen die Gefühle der überlebenden Folteropfer durch die Präsentation erneut verletzt und forderten eine Umhängung ihrer eigenen Werke, die im Umfeld von Lebels Arbeit gezeigt wurden. Anfang dieser Woche entschuldigte sich Biennale-Leiter Attia dafür, die „Sensibilität der Situation unterschätzt“ zu haben und für den daraus resultierenden Schmerz. Die Werke der irakischen Künstler hingen da bereits in neuen Räumen – doch an diesem Donnerstag gab die Biennale bekannt, dass die verärgerten Künstler ihre Arbeiten gänzlich aus der Ausstellung zurückziehen. In einem Statement erklärt die Biennale, diese Entscheidung zu bedauern aber zu respektieren und offen für den Dialog bleiben zu wollen.

Hochpolitisch ist also diese Ausstellung in jeder Ecke. Und politisch motivierte Videokunst dominiert am ersten Standort, der Akademie der Künste im Hanseatenweg. Im Video „Traces“ (2022) erzählt Ammar Bouras aus Algier vom heute wenig bekannten „Béryl“-Unfall, einem schiefgegangenen französischen Atomtest, der 1962 einen Berg in Algerien verstrahlte. Die einheimische Dorfbevölkerung leidet bis heute unter den Folgen. Die Ohnmacht des Individuums gegenüber dem Staatsapparat ist auch das Thema von Dana Levys sorgsam recherchiertem Film „Erasing the Green“ (2021/2022) der das Verschwinden palästinensischer Olivenhaine zugunsten israelischer Siedlungen thematisiert. Neben den vielen Filmarbeiten besticht zudem eine große Wellenskulptur des Vietnamesen Ðào Châu Hai aus feinen Stahlplatten, die auf Gebietsstreitigkeiten im Ostchinesischen Meer verweist.

Berlin Biennale Ðào Châu Hai
Die Wellenskulptur „Ballad of the East Sea“ (2022) des Vietnamesen Ðào Châu Hai besteht aus feinen Stahlplatten. © dotgain.info

In Ðàos Welle zu versinken wäre potenziell tödlich. Als Friedhof droht der Ozean zudem in einem Malereizyklus der Kalifornierin Calida Garcia Rawles, der am Hanseatenweg und im Hamburger Bahnhof zu sehen ist. Die lichtdurchfluteten Bilder zeigen schwarze Körper im blauen Meer, aber natürlich klingen im sommerlichen Badeidyll Erinnerungen an die berüchtigte middle passage der Sklavenschiffe über den Atlantik an, die viele Gefangene nicht überlebten. Einzelschicksale geraten im Hamburger Bahnhof stärker in den Blick: In einem großartigen Film macht der französische Künstler Layth Kareem das Wrack eines Jeeps in Kabul, in dem ein Bombenanschlag verübt wurde, zum Therapieort für die Hinterbliebenen.

Bewegend ist auch die Videoinstallation „Oh Shining Star Testify“ (2019–2022) von Basel Abbas und Ruanne Abou-Rahme über einen palästinensischen Teenager, der nachts beim illegalen Durchqueren eines Grenzzauns von israelischen Soldaten erschossen wurde. Neben dieser deutlichen Israelkritik sind in der Ausstellung auch Werke zu sehen, die Probleme in arabischen Staaten thematisieren: So zeigt Amal Kenawys Video „Silence of Sheep“ eine Performance in Kairo 2010, bei der eine Gruppe von Gelegenheitsarbeitern und Künstlern auf allen vieren über die Straße krabbelte, bevor diese Kunstaktion von einem Mob gewaltbereiter Männer rüde gestoppt wurde. Antisemitismus, wie er unlängst auf der Documenta zu sehen war, wird man auf der Berlin-Biennale nicht finden: An den Holocaust und die Gewalt gegen Juden erinnert Zuzanna Hertzberg in den Kunst-Werken mit großen Textilbannern, in denen sie die Widerstandskämpferinnen des Warschauer Ghettos würdigt.

Der Ausstellungsteil in den Kunst-Werken ist sehr spannend, weil viele Arbeiten aus feministischer Perspektive auf die Welt blicken. Nil Yalter macht den Sexismus in einem französischen Frauengefängnis zum Gegenstand von Zeichnungen, und Mathieu Pernot hat in einfühlsamen Fotografien über 20 Jahre das Leben einer Romnja-Patriarchin und ihrer Familie begleitet. Harte und bittere Lektüre ist Ariella Aïsha Azoulays Dokumentarmaterial zu den Vergewaltigungen von Berliner Frauen durch Soldaten der russischen Armee nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Dass der weibliche Körper allzu oft Gewalt erfährt, ist auch Mayuri Chari aus Goa sehr bewusst, und sie protestiert dagegen, indem sie in ihrer Arbeit „I Was Not Created for Pleasure“ (2022) getrocknete Kuhfladen zu Vulven formt und an die Wand hängt. Den Satz „My Body, My Freedom“ hat sie daneben auf ein Leinentuch gestickt.

Noel W Andersons „Hood Dreams I“ (2019–2021) ist neben Calida Garcia Rawles’ Malerei „Hide Tide, Heavy Armor“ (2021) zu sehen. © Laura Fiorio

Wechselseitige Kulturaneignung ist anschließend ein Hauptthema im Ausstellungsteil am Pariser Platz (Akademie der Künste): Gemälde deutscher Expressionisten, die afrikanische Kunstwerke wie Masken oder Statuen zeigen, werden hier mit Kruzifixen kontrastiert, die im 20. Jahrhundert von unbekannten afrikanischen Künstlerinnen und Künstlern geschaffen wurden. Fragen nach vermeintlicher Authentizität und dem Stellenwert von Objekten in Gesellschaften werden aufgeworfen. Letzteres thematisiert auch der Film „Dream Your Museum“ (2022), den die Inderin Khandakar Ohida über ihren sammelwütigen Onkel gedreht hat.

Am Berlinale-Standort der ehemaligen Stasi-Zentrale in Lichtenberg beschäftigen sich dann Künstler wie Omer Fast oder Zach Blas in ihren Arbeiten passend mit dem Thema der allgewärtigen Videoüberwachung. Heraus ragt hier jedoch ein Fotozyklus des Künstlers Ngô Thành Băc, der sich vor alten sozialistischen Denkmälern in Hanoi im Kopfstand porträtiert hat. Auch das lässt sich als Form des stillen Widerstands begreifen: Mit einer kleinen ironischen Geste dreht sich eine ganze Weltsicht um. 

Service

AUSSTELLUNG

„Still Present! 12. Berlin Biennale“,

diverse Orte in Berlin,

bis 18. September

12.berlinbiennale.de

 

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