Anselm Kiefer bespielt im Vorfeld der Biennale in Venedig die Sala dello Scrutinio mit überwältigender Bilderfülle – und erzählt seine Sicht der Welt- und Stadtgeschichte
ShareWenn in wenigen Wochen die Kunstbiennale in Venedig beginnt, werden sich die Akteure dieser Weltschau – die über 200 Künstlerinnen und Künstler, rund 90 Länderpavillons, 30 offizielle Collateral Events und zahlreiche Ausstellungen in Stiftungen, Institutionen, Museen und Galerien präsentiert – mit der phänomenalen ortspezifischen Installation von Anselm Kiefer im Dogenpalast messen müssen. Seit vergangenem Samstag bespielt der deutsche Maler die Sala dello Scrutinio, den Saal, in dem zu Zeiten der alten Seerepublik die Stimmzettel ausgezählt wurden. Unmittelbar neben der Sala del Maggior Consiglio, dem riesengroßen Ratssaal, zeigt Kiefer auf 800 Quadratmetern acht großformatige Szenen, die aus je 15 bis 20 Leinwänden zusammengesetzt und übergreifend miteinander verbunden sind.
Mit dieser Bilderfülle übertrumpft er sogar den berühmten venezianischen Maler Jacopo Tintoretto, der zwischen 1564 bis 1587 die Scuola Grande di San Rocco mit 60 Gemälden ausstattete. Kiefer gelang dieser Geniestreich mit einer raffinierten Strategie: Er ließ die komplette „Istoria“ – die narrative Ausstattung mit Gemälden venezianischer Meister wie Jacopo Tintorettos „Sieg der Venezianer gegen die Ungarn vor den Toren von Zara“ und Andrea Vicentinos „Seeschlacht von Lepanto“ sowie die gesamte schmucklose Sockelzone – verhüllen. Seine Neuausstattung reicht vom Boden bis knapp unter die goldene Kassettendecke.
Der neue Raumeindruck ist überwältigend, denn Kiefers heroischer Duktus und seine gedeckte erdige Farbigkeit mit goldenen, roten und bleiernen Elementen harmonieren perfekt mit den historischen Deckengemälden. Aber auch inhaltlich schafft Kiefer mit Zitaten der Serenissima eine Verbindung zu den in den Deckengemälden behandelten Themen der territorialen Expansion in Richtung Padua, bis nach Akra und Rhodos. Ein zentrales figuratives Element ist dabei die gotische Fassade des Dogenpalastes und eine überdimensionale venezianische Flagge.
Trotz der Abstraktion sind die Sinnbilder der einstigen Großmacht unschwer zu erkennen. Kiefer intendiert damit aber keine Legendenbildung wie zuvor die „Istoria“, sondern eine Demontage: Er lässt den Dogenpalast, der über Jahrhunderte das Zentrum der Macht war, in Rauch und Flammen aufgehen. Aus der Leinwand gegenüber ragt inmitten eines skizzierten mittelalterlichen Gewölbes ein aufgeklappter Metallsarg, in dem ein Säckchen liegt. Dieses soll an die Reliquien des heiligen Markus erinnern, doch anders als im Mosaik am Markusdom, in dem der Stadtpatron bei der Translatio, der Überführung der aus Alexandrien geraubten Gebeine, körperlich unversehrt gezeigt wird, zeigt Kiefer Tod und Verwesung. Die drei anschließenden Szenen deuten Kriegs- und Fluchtszenarien an, die aber geisterhaft unreal dargestellt sind. Dieser Eindruck – im oberen Bildfeld nur ahnungsweise wahrgenommen – materialisiert sich in einem der unteren Bildfelder, wo kopflose Mantelwesen – vereinzelt mit Sicheln – ein Zombie-Heer formieren.
Die auffällige Abwesenheit menschlichen Daseins wird auch an der Stirnwand am Eingang deutlich, wo aus einer lagunenhaften Landschaft eine sehr, sehr lange Leiter in die lichterfüllte obere Bildhälfte führt. Deutlich ist hier der Rekurs auf Tintorettos berühmte Kreuzigungsdarstellung für die Sala dell’Albergo der Scuola di San Rocco, auf der die Leitern der Henker an den hochaufragenden Kreuzen lehnen.
Neben diesem expliziten ikonografischen Verweis klingt in dem Gemälde ein literarisches Leitmotiv an. Kiefer hat Goethes Faust II intensiv studiert und sieht viele Parallelen zwischen dem Protagonisten und den Venezianern: auch Faust habe kurz vor seinem Tod dem Meer ein Stück Land abgerungen und auch Faust habe dann sein Glück in der Ferne gesucht, gewütet und gemordet. Doch Kiefer weist mit seinem organisch-haptischen ‚Mosaik‘ immer wieder über die 1600-jährigen Geschichte Venedigs hinaus und zielt auf die Darstellung einer allgemeingültigen menschlichen Tragik zwischen Pionierarbeit und Verfall, Expansion und Zerstörung. Was Kiefer selbst mit den Gemälden vorhat, die bis Ende Oktober dieses Jahres in Venedig bleiben werden, formuliert er kryptisch im Ausstellungstitel: „Questi scritti, quando veranno bruciati, daranno finalmente un po’ di luce“ („Diese Schriften werden, wenn sie verbrannt werden, endlich etwas Licht spenden“). Dabei handelt es sich um ein Zitat des italienischen Philosophen Andrea Emo (1901–1983), das Kiefer auf eine kapellenartige Installation im Vorraum geschrieben hat. Auf dem mehrteiligen Gemälde flankieren dreidimensionale verkohlte Bücher ein weites winterliches Stoppelfeld, wie Reste eines Scheiterhaufens. Nach diesem düsteren Auftakt begrüßen den Besucher am Eingang der Sala dello Scrutinio metallene engelhafte Lichtgestalten. Die silbrig-graue spiegelnde Bildoberfläche erinnert irgendwie an Bleigießen, das – vielleicht – eine glückliche Zukunft verheißt. Mit der Erinnerung an Venedigs Glanz und Macht, aber auch an seine große Malerei, und mit den dunklen Bildern von Gewalt, Tod und Zerstörung, und nicht zuletzt mit der Anspielung auf den tragischen Faust, stellt uns Kiefer ein grandioses Welttheater ganz eigener Interpretation vor Augen.
„Questi scritti, quando veranno bruciati, daranno finalmente un po’ di luce“,
bis 6. Januar,
Dogenpalast, Venedig