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Silberstreif am Horizont

Mit verhüllten Monumenten sorgte er über Jahrzehnte für Aufsehen, jetzt ist Christo mit 84 Jahren gestorben. Wir sprachen mit ihm vor der Eröffnung seiner Schau im Berliner Palais Populaire, die nun an ihn und seine Frau Jeanne-Claude erinnert

Von Tim Ackermann
05.05.2020

Wie eine Fata Morgana erschien dieses schimmernde Fantasiekonstrukt auf dem grünen Rasen an der Spree. Im Sommer 1995 hüllte das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude das Berliner Reichstagsgebäude in ein Gewand aus 100 000 Qua­dratmeter silbernem Gewebe und verschnürte es mit 15,6 Kilometer blauem Seil. Vierzehn Tage lang konnte man den Bau in seiner märchenhaften Verpackung bewundern. Danach verschwand das Wunder wieder, vollkommen spurlos. Im Rückblick lässt sich sagen, dass kein Kunstereignis der Nachwendezeit derart fasziniert hat wie der „Wrapped Reichstag“. Millionen Besucher schauten sich das Spektakel an, das unser heutiges Bild von Berlin als weltoffener Kunstmetropole entscheidend mitprägte.

Retrospektive des Künstlerpaars

Das 25-Jahre-Jubiläum des „Wrapped Reichstag“ wäre dennoch an den Museen der Stadt vorbeigegangen, wenn nicht ein privates Ausstellungshaus die Aufgabe der Würdigung übernommen hätte: Das Palais Populaire der Deutschen Bank plant, unter dem Titel „Christo und Jeanne-Claude Projects 1963–2020″ Kunstwerke aus der Sammlung von Ingrid und Thomas Jochheim zu zeigen. Der exakte Eröffnungstermin ist aufgrund der Corona-Krise unsicher. Vorfreude schürt aber die Werkliste, die einen einmaligen Überblick über das gemeinsame Schaffen des bulgarischen Künstlers und der 2009 verstorbenen Französin verspricht. 

Von frühen Objekten wie den Magazinen oder Alltags­gegenständen, die Christo Anfang der Sechzigerjahre einpackte, spannt sich der Bogen bis zum gegenwärtigsten Projekt – der Verhüllung des Arc de Triomphe in Paris. Sie sollte ab dem 19. September zu sehen sein, nun ist sie auf Mitte September 2021 verschoben. Alle Großprojekte des Künstlerpaars sind durch Entwurfszeichnungen vertreten. So kommt es zu einer Retrospektive. Gleichzeitig ist es die Auswahl des Sammlerpaars Jochheim, das Christo sehr schätzt, wie er in einem Telefonat von seinem New Yorker Atelier aus betont. Aus eigenem Antrieb hätte er einen Überblick nicht organisiert, fügt er hinzu.

Projektentwicklung im Diskurs

Sichtet man allerdings die Werkliste und stößt auf Zeichnungen des „Wrapped Reichstag“ oder des verhüllten Triumph­bogens aus den Achtzigerjahren, ist das schon sehr aufschlussreich: Man versteht, wie lange es braucht, um eine Genehmigung zu bekommen. „In der Phase, die ich software period nenne, wenn ein Werk nur aus Entwurfszeichnungen und Anträgen besteht, gibt es viele Menschen, die uns helfen und Hunderte andere, die uns stoppen wollen“, erläutert Christo nun am Telefon. „Dadurch entwickelt das Projekt eine Identität und Kraft, die normale Kunstwerke nicht besitzen. Niemand würde über ein Gemälde diskutieren, bevor es entstanden ist. Aber die Menschen debattieren leidenschaftlich über einen geplanten Flughafen oder eine neue Autobahn. Das zeigt, dass unsere Kunst in anderen Sphären angesiedelt ist.“

Dreimal wurde die Verhüllung des Reichstags abgelehnt – 1977, 1980 und 1987. „Seit unserer ersten Idee im Jahr 1972 sind wir zweieinhalb Jahrzehnte lang mit dem Projekt immer wieder zu unterschiedlichen Bundestagspräsidenten gegangen – ohne Erfolg. Das wurde erst anders, als Rita Süssmuth kam“, erzählt Christo. Die Bundestagspräsidentin habe Christo und Jeanne-Claude nach Bonn eingeladen und erläutert, wie sie in Gesprächen die Abgeordneten überzeugen könne. „Am Morgen, als die Debatte zur Verhüllung im Bundestag stattfinden sollte, holte Frau Süssmuth ein Stimmungsbild ein, und das ergab, dass wir keine Mehrheit hatten. Ich war am Boden zerstört. Das Projekt schien für immer gescheitert.“ Doch während der Debatte drehte sich durch den wenig gelungenen Auftritt der Verhüllungs­gegner der Wind: „Am Ende stimmte der Bundestag für das Projekt. Wir hatten gewonnen“, erinnert sich der Künstler.

Aus dem Entwurf wird Realität 

So zauberhaft und leicht Christo und Jeanne-Claudes Werke wirken mögen, erfordern sie in der zweiten Entwicklungsphase, der hardware period, handfeste Arbeit. Schon der Entwurf für die „Floating Piers“ von 2016 zeigt die Komplexität des Unterfangens. Geplant ist ein 5,5 Kilometer langer, teilweise schwimmender Gehweg aus der Stadt Sulzano über die Wasser des Iseosees. „Für gewöhnlich geraten alle großen Werke zwischendrin in eine Krise. Weil es eben Projekte sind, die nie zuvor erprobt wurden“, sagt der Künstler. „Und das ist auch der Grund, weshalb sie eine Menge Angst, Freude, Energie und Drama erzeugen. Weil sie so real sind!“ Christos Stimme am Telefon wird vehementer: „Wir spielen kein Theater. Es geht um die echten fünf Kilometer, umgeben von echtem Wasser und echtem Wind. Diese ganze Realität ist in unseren Werken enthalten.“

Ein Wiedersehen in Paris

Und ist das nächste Projekt, die ganz reale Verhüllung des Pariser Triumphbogens, nicht auch von persönlicher Bedeutung? „Oh ja, sehr“, antwortet Christo. Und erzählt die Geschichte, wie er nach Paris kam: 1957 flüchtete der Künstler von Sofia über Prag und Wien nach Genf, wo er zum Lebensunterhalt Aristokraten und hochrangige Mitarbeiter der UNO porträtierte. Eine französische Gräfin bot ihm schließlich ein Dienstbotenzimmer in dem Haus an, in dem sie lebte. „Als ich im März 1958 in Paris ankam, war die angegebene Adresse nahe dem oberen Ende der Champs-Élysées. Ich habe mehrere Monate in der unmittel­baren Umgebung des Arc de Triomphe gewohnt.“ Im selben Jahr lernte er Jeanne-Claude in Paris kennen. „Bereits 1962 träumten wir von der Verhüllung des Bogens. Ich hätte nie gedacht, dass wir dazu die Erlaubnis bekommen, weil es ein Wahrzeichen mit hohem symbolischen Wert für das Militär ist. Es enthält das Grab des unbekannten Soldaten und die Ewige Flamme.“ Nach Fürsprache des Direktors des Centre Pompidou bei Präsident Emmanuel Macron kam die Zustimmung jedoch rasch. Fühlt es sich für Christo so an, als kämen er und Jeanne-­Claude nach Hause? „Natürlich“, entgegnet der Künstler. „1985 haben wir in Paris den Pont Neuf verhüllt. Es ist also das erste Mal, dass wir ein zweites Projekt in derselben Stadt machen.“

Service

Ausstellung

„Christo und Jeanne-Claude Projects 1963–2020″

Palais Populaire, Berlin

bis 14. September

Dieser Beitrag erschien in

WELTKUNST Nr. 170/2020

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