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Triennale in Brügge: Gegen den Strom

Wie reagiert eine Stadt, in der die Zeit stillzustehen scheint, auf die Flüchtigkeit der Gegenwart? Architekten und Künstler suchen auf der Triennale in Brügge nach Antworten – und finden sie auf dem Wasser.

Von Laura Storfner
27.07.2018

„Vielleicht ist genau das die Hölle. Den Rest der Ewigkeit in Brügge zu verbringen“, schießt es Ray, der Hauptfigur aus „Brügge sehen… und sterben?“, durch den Kopf. Zu langweilig, museal und ruhig erscheint ihm die Stadt in Flandern mit ihren mittelalterlichen Kanälen, prachtvollen Herrenhäusern und Pferdekutschen, die gemächlich über das Kopfsteinpflaster klackern. Könnte Ray in der Zeit bis 16. September noch einmal durch die engen Gassen gehen, er müsste sein Urteil wohl revidieren. Denn anlässlich der diesjährigen Triennale zeigen fünfzehn Künstler und Architekten die verträumte Weltkulturerbestadt von einer anderen Seite. „Als wir das erste Mal hier waren, hätte es uns nicht gewundert, wenn hinter der nächsten Ecke ein Einhorn oder ein Seeungeheuer aufgetaucht wäre“, erzählt Jason Klimoski, der mit Lesley Chang das New Yorker Architekturbüro StudioKCA leitet. Gleich hinter der Jan-van-Eyck-Statue machen sie ihre Märchenvision wahr: Aus dem Kanal erhebt sich ein vier Meter langer Wal. Er besteht aus Plastikmüll, den das Duo an der Küste Hawaiis gesammelt hat, wo ein Strudel, fast fünfmal so groß wie Deutschland, Abfall aus der ganzen Welt an die Strände spült. „Mit unserer Arbeit wollen wir zeigen, was passiert, wenn wir konsumieren, ohne an die Konsequenzen zu denken“, sagt Klimoski.

Bürgermeister Renaat Landuyt ist es zu verdanken, dass Projekte wie dieses in Brügge ihren Platz finden. 2015 holte er die Triennale in die Stadt, wo die Kuratoren Till-Holger Borchert und Michel Dewilde an eine lange Ausstellungstradition anknüpfen. „Einerseits ist das Projekt ein Revival, weil zeitgenössische Kunst in der Stadt erstmals wieder seit den Triennalen der Siebzigerjahre eine Rolle spielt, andererseits wollen wir aber auch internationale Künstler vorstellen, die der lokalen Bevölkerung noch wenig bekannt sind“, erklärt Borchert.

Die Rückeroberung des Wassers

Wegen seiner Kanäle, den sogenannten Reien, trägt Brügge den Beinamen Venedig des Nordens. Im Mittelalter bildeten sie die Lebensadern der Stadt, heute werden sie fast ausschließlich von Ausflugsbooten befahren. Mit dem diesjährigen Ausstellungskonzept soll das Wasser zurückerobert werden. Die dazu passende Theorie liefert Zygmunt Bauman, der Vordenker der Postmoderne. In der hyperkapitalistischen Gegenwart arbeitete er die Schattenseiten der Globalisierung heraus und prägte für unsere von Umbrüchen bestimmte Zeit den Begriff der „liquid modernity“, den die Kuratoren auf ihre Stadt übertragen. „Brügge ist im wahrsten Sinne des Wortes eine ‚liquid city’“, so Borchert. „Im Mittelalter verband das Wasser Brügge mit der weiten Welt, mit seinem Hafen stieg die Stadt zu einem der bedeutendsten Handelszentren Europas auf.“

Erweckung aus dem Schönheitsschlaf

Doch Ende des 15. Jahrhunderts ging es bergab. Brügges Zugang zur Nordsee versandete und der burgundische Hof, unter dem das kulturelle Leben aufgeblüht war, zog sich zurück. Plötzlich verlor die Stadt den Anschluss an das Weltgeschehen und damit ihren Status. Was folgte, war ein jahrhundertelanger Schönheitsschlaf, der nicht einmal von der industriellen Revolution und den Weltkriegen unterbrochen wurde. Ein Glücksfall, denn so blieb der historische Stadtkern erhalten, der Jahr für Jahr Millionen Reisende nach Brügge zieht. Aber nicht nur die Touristen sollen während der Triennale abseits der gewohnten Pfade wandern, auch die Einheimischen können ihre Stadt neu entdecken. Die Richtung, so die Kuratoren, geben dabei die Künstler vor: „Denn wer könnte in den von Bauman beschriebenen unsicheren Zeiten besser Halt und Orientierung geben als sie?“

Neue Wege auf dem Wasser

Begleitet wird die Freiluftschau von einer Studioausstellung mit Architekturmodellen aus der Sammlung des Orléaner Frac Centre, die den Gedanken der „liquid architecture“ fortführen. Nachhaltigkeit steht dabei oft an oberster Stelle. Ein Feld, auf dem Brügge anderen Städten schon einiges voraushat, denn auf den Straßen sieht man mehr Fahrräder als Autos. Die spanischen Architekten José Selgas und Lucía Cano schlagen in diesem Sommer noch eine alternative Art der Fortbewegung vor: schwimmen. Ähnlich psychedelisch wie der Gartenpavillon, den sie vor drei Jahren vor der Londoner Serpentine Gallery aufstellten, leuchten auch die roten Wände ihres Pontons auf der Coupure.

Das Wasser teilt man sich in Brügge mit den inoffiziellen Wappentieren der Stadt: weißen Schwänen, die der Legende nach im 15. Jahrhundert nach Brügge kamen. Damals lehnten sich die Einwohner der Stadt gegen ihren Kaiser Maximilian von Österreich auf, der höhere Abgaben von ihnen forderte. Aus Protest richteten sie seinen Beamten Pieter Lanchals hin. Maximilian rächte sich, indem er die Bevölkerung zwang, in Erinnerung an den treuen Verwalter bis in alle Ewigkeit „Langhälse“ auf den Gewässern der Stadt zu halten. Fasziniert von der Erzählung entwickelte der Bildhauer John Powers seine Installation: „Nach Brügge kam ich mit nicht viel mehr als einer Zeichnung von einer S-Kurve, die an einen Schwanenhals erinnern sollte. Es gab keinen Plan, kein Modell.“ Entstanden ist so ein geschwungener, fünfzehn Meter hoher Turm. Die zerstörerische Kraft des Wassers beeinflusst das Langzeitprojekt von Kunlé Adeyemi, der 2013 in Makoko, dem größten Slum von Lagos, eine schwimmende Schule errichtet hat. Auch wenn der Bau inzwischen zerstört ist, lebt Adeyemis Idee weiter. Mit seiner „Floating School“ gewann er vor zwei Jahren bei der Biennale in Venedig den Silbernen Löwen, nun treibt die neueste Version seines schwimmenden Klassenzimmers auf dem Minnewater im Süden von Brügge.

Blicke unter die Oberfläche

Jenseits von Gewohntem bewegt sich der Künstler Renato Nicolodi mit seinen Installationen. Obwohl sie an archetypische Architekturformen erinnern, zitieren sie Bauwerke niemals direkt. Stattdessen interessiert sich Nicolodi für das, was unter der Oberfläche liegt: „Auf Google Maps kann man auf den Boden von Brügges Kanälen blicken: Dort erkennt man eine kleine versunkene Welt.“ Den Übergang zur Unterwelt markiert er mit einem Tor aus rohem Beton, das halb unter, halb über dem Wasser treibt.

In Anlehnung an den mythologischen Totenfluss und Dantes „Göttliche Komödie“ trägt die Konstruktion den Titel „Acheron I“. Während die Jenseitsreise des Dichters im Paradies endet, findet der Rundgang durch Brügges Triennale seinen Abschluss an Nicolodis Schwelle zur Unterwelt. Wenn die Hölle so aussieht, dann bleiben wir gerne noch ein wenig länger.

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Triennale Brügge

bis 16. September 2018

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