Ausstellungen

Beate Kuhn: Die Meisterin des guten Tons

Sie schuf mit überbordender Fantasie und Virtuosität keramische Werke, die bislang nur in der Welt der Töpferei bekannt waren

Von Sebastian Preuss
13.07.2017

Mit geneigten Köpfen stehen sie beieinander. Sie haben keine Gesichter, weder Arme noch Beine, stattdessen bilden auf- und abschwellende Rundungen die Körper, die sich nach vorne öffnen. Die buchstäblich leeren Figuren drängen sich zusammen, als würden sie tuscheln oder etwas aushecken. Man kann Vertrautheit oder gemeinsame Trauer in die Gruppe hineinlesen. Es könnte ein Familientreffen oder irgendein Mummenschanz sein, womöglich lachen die Figuren einfach nur zufällig zusammen. Man hat gar keinen Zweifel, dass hier Menschen dargestellt sind, dabei bestehen sie aus nichts anderem als einer Reihung von runden Hohlkörpern. Wir befinden uns irgendwo in einer abstrahierten, ort- und zeitlosen Sphäre, und doch verströmt dieses Werk eine tiefe Humanität. Der gebrannte Ton und die mattbunte Glasur mit herrlichen Abstufungen in Grün, Rosa und weißlichem Violett tun ihren Teil dazu, die Gruppenszene in ein heiteres ästhetisches Elysium zu entrücken. In ihrer Buntheit und den coolen Schwingungen hat die Skulptur Pop-Appeal, ja beinahe wirkt sie, als hätte sie einen Hauch von kalifornischem Drive abbekommen.

Eine Ausnahmeerscheinung in der Keramikszene

Die Plastik entstand 1988 und gehört der Neuen Sammlung in München Sie ist ein Meisterwerk der großen Keramikkünstlerin Beate Kuhn. Im Dezember 2015 starb sie mit 88 Jahren, nordöstlich von Frankfurt, in Düdelsheim in der Wetterau, wo sie seit 1957 gelebt hatte. Für Freunde und Kenner der Studiokeramik war Kuhn immer ein Begriff. Mit ihren fantasievollen tönernen Gebilden, ausgeführt mit höchster technischer Raffinesse, galt sie als Ausnahmeerscheinung in der deutschen Keramikszene und darüber hinaus. Sie hatte viele Ausstellungen und Sammler, die sich regelrecht um ihre Stücke rissen, erhielt fast alle Preise und Ehrungen, die es in Europa für die tönerne Kunst gibt.
Beate Kuhns Keramik war von Beginn etwas Besonderes. In den Fünfzigern, nach der Ausbildung an den Werkkunstschulen in Wiesbaden und Darmstadt, schuf sie wie alle Kollegen damals Gefäße: Vasen, Schalen, Kannen, Kaffeetassen oder Teller. Aber diese Objekte mutieren in exaltierte Wölbungen, sie nehmen anthropomorphe Formen an, wirken zuweilen wie archaisch stilisierte Frauendarstellungen. Eine Vase von 1955 hat Kuhn »Die Nachdenkliche« genannt. Der sanft geblähte Korpus teilt sich in der Mitte in zwei lange Hälse, einer davon endet in einer Art Radarschirm, der die Absurditäten der Welt empfangen kann. Eine andere hat zwei Hälse, während sich ihr Bauch nach innen wölbt und die bemalte Fläche darin eine vage Andeutung der weiblichen Fruchtbarkeit gibt. Kuhns Fantasie ist schon damals enorm, sodass eine Vase auch mal wie ein Vierzylindermotor aussehen kann. Alles ist mehrdeutig, und immer wieder staunt man, wie die junge Künstlerin klassische Gefäße in wundersame Wesen verwandelt. Die Malereien der glatten Glasur tun ihr Übriges, präkolumbische Keramik aus Peru kommt dabei ebenso in den Sinn wie die surrealarchaische Traumwelt von Joan Miró.

Keramik als Kunst

Von Beginn an kommt Kuhns Zugang nicht vom Töpferhandwerk, sondern von der bildenden Kunst. Ihr Vater Erich Kuhn, den sie sehr verehrt, ist Bildhauer. Seine abstrahierten Figuren finden in ihren frühen Gefäßen Niederschlag. Überhaupt verfolgt sie intensiv das internationale Kunstgeschehen, fährt oft weite Wege, um sich Ausstellungen anzuschauen. Beim Studium in Darmstadt freundet sie sich mit dem Keramiker Karl Scheid an; 1953 gründen die beiden eine gemeinsame Werkstatt im südbadischen Lottstetten. Schon an der Werkkunstschule wird Rosenthal auf die junge Künstlerin aufmerksam, so entstehen bis 1959 fast 30 Entwürfe für die Porzellanfabrik. Manche der schräg verformten Vasen sind noch lange in der Produktion.
Im Jahr 1957 ziehen Kuhn und Scheid in dessen Heimatdorf Düdelsheim. Es wird eine Arbeitsgemeinschaft, die ein Leben lang hält. Seit 1959 ist Scheid verheiratet, auch Ursula (die 2008 stirbt) ist Keramikerin, der Sohn Sebastian wird es ebenfalls. Auf dem Grundstück hinter dem alten Bauernhaus baut Kuhns Bruder Jochen 1957 für sie ein streng modernes Atelierhaus. »Ihr Vater sagte zu ihr: Als Künstlerin musst du allein leben«, erzählt Karl Scheid, der Beate Kuhns Leben und Werk so gut wie kein Zweiter kennt. Wohnbereich und Werkstatt sind nur durch einen Absatz voneinander getrennt, für andere Menschen, gar für eine Familie ist kein Platz. »Sie hat unglaublich viel gearbeitet, ihr war nichts zu mühsam«, erzählt die Nichte Susanne Kuhn, die den Nachlass betreut. 

Um 1963 kommt es dann zum folgenreichen künstlerischen Wandel. In mehreren Schritten gelangt Kuhn zu etwas völlig Neuartigem, indem sie die klassischen, auf der Drehscheibe entstandenen Gefäßformen – Halbkugeln, Zylinder, Scheiben, Röhren, Stäbe oder kleine Schälchen – zu abstrakten oder figürlichen Plastiken montiert. In Ansätzen gab es das schon, etwa vom einflussreichen Kasseler Keramiklehrer Walter Popp, die Montage ist ohnehin ein Grundprinzip der Moderne. Aber in dieser Konsequenz hat das kein anderer Keramiker vor Kuhn vollbracht: ein Skulpturenstil, der allein aus den Bedingungen des Materials und der Töpfertechnik schöpft. Auch ästhetisch wird sofort klar, dass so etwas nur mit gebranntem Ton umzusetzen ist. Denn die Künstlerin entwickelt Kompositionen, die sich allein aus der Kumulation keramischer Grundmodule erzeugen lassen. Die virtuose Beherrschung der Drehbank ist essenziell dafür. So führt Kuhn in beinahe programmatischer Weise vor, dass die Keramik keine Kunst der zweiten Reihe ist, sondern in der Lage ist, einen ganz eigenen Beitrag zur modernen Skulptur beizutragen.

Inspiration aus der Natur

Die Addition von Gefäßformen setzt bei Kuhn eine schier unerschöpfliche Fantasie frei. In den Sechzigern spielt sie Variationen mit Röhren und Kugeln durch, bald darauf besetzt sie runde Gebilde mit Stacheln. Eine zentrale Inspirationsquelle wird die Natur. Immer wieder wandelt sie Pflanzenelemente analytisch in Grundmodule um, die sich an der Drehbank töpfern lassen, und kombiniert diese zu fantastischen Gebilden. Da drängen sich umgestülpte Schalen wie exotische Pilze, verschmelzen aneinandergefügte Tassen zu unwirklichen Raupen oder grotesken Schnecken. Es gibt verrückte Verpuppungen, Massierungen, Verkettungen, zuweilen sogar phallische Ausbrüche.

Auch die Musik beeinflusst sie. Bei der Arbeit hört sie zeitgenössische Kompositionen von Luigi Nono und anderen, in Frankfurt besucht sie bis ins hohe Alter die Konzerte des Ensemble Modern. Serialität und Rhythmus, Assonanzen und Dissonanzen – diese musikalischen Prinzipien sind in ihren Werken immer wieder anzutreffen. Ein Objekt aus dem Jahr 1970 besteht aus Zylindersegmenten, die zu einem Turm emporwachsen und aus denen Röhren mit Saugnäpfen schießen, während oben ein Deckel mit Griff den Abschluss bildet. In einem gelblichen Stück von 1970 fügt Kuhn Stapel von immer kleiner werdenden Schalen so halsbrecherisch an eine senkrechte Scheibe, als würde der ganze Aufbau gleich zusammenbrechen. Das Alltagsgerät wird zum Teil einer surrealen Erfindung. Was man darin erblicken kann, bleibt jedem Betrachter selbst überlassen. Kuhn reizt die Möglichkeiten ihrer Methode bis ans Limit aus. Meist benutzt sie Steinzeugton, der sich feiner verarbeiten lässt. Die höheren Brenntemperaturen erlauben nur matte Glasuren, denen sie aber wunderbar sensible Farbspiele entlockt. In den Siebzigern wird Kuhns Fantasiewelt poppig. Sie arbeitet viel mit weißen, runden Elementen, eine zuweilen fast psychedelische Softwelt wie aus Schlumpfhausen, gerundete Waben, aufgeblasene Hans-Arp-Gebilde oder amöbenartig wuchernde Schalenobjekte.

Bei vielen Sammlern begehrt, aber nicht jedermanns Geschmack sind ihre Katzen und anderen Tiere, die sie aus Schalen oder Tellerchen zusammensetzt. In den Neunzigern, vor allem nach 2000 wird die Farbpalette bunter, zuweilen auch grell. Ihr Spieltrieb mit den Formen der Natur ist ungebrochen, aber nicht alle Werke haben den coolen Appeal der Sechziger bis Neunziger. Leider bewegte sich die Keramik selbst in ihren Boomzeiten in den Siebzigern und Achtzigern – als Sammler früh zu Ausstellungen kommen mussten, um überhaupt ein gutes Stück zu ergattern – stets jenseits des allgemeinen Kunstbetriebs. Keramik wurde als Kunsthandwerk abgetan und musste sich in einem eigenen Biotop einrichten, dem es fast nie gelang, Verbindungen zur Museumswelt und zum Markt der »hohen« modernen Kunst aufzubauen. Einen Erfolgsweg gab es nur von der anderen Seite: Picasso und Lucio Fontana kamen von der Malerei und der Skulptur, da wurden ihre keramischen Werke mit der gleichen Begeisterung aufgenommen.

Zeit, dass sich etwas ändert

Heute interessieren sich zahlreiche Künstler, vor allem auch jüngere, brennend für das Material, experimentieren damit und integrieren es in ihre bildhauerische oder konzeptuelle Arbeit. Viele lassen sich dabei helfen, einige haben sich auch intensiv in die technischen Erfordernisse vertieft, in die Behandlung und Mischung des Tons, die komplizierte Alchemie der Glasuren und den Umgang mit dem Brennofen. Aber selbst von dieser Entwicklung konnte die Studiokeramik – also das künstlerische Unikat, das in den Werkstätten ausgebildeter Keramiker entsteht – bislang nicht profitieren. Es wird Zeit, dass sich das ändert, denn in ihrer abgeschotteten Welt verdorrt diese wunderbare Gattung, vor allem seit die Blütezeit des Keramiksammelns vorbei ist und heute selbst bedeutende Stücke zu Spottpreisen angeboten werden. Beate Kuhn ist das beste Beispiel dafür, welch herausragende Künstler darauf warten, dem Keramikreservat zu entfliehen und die angemessene Aufmerksamkeit der Kunstwelt zu erhalten. Wer zweifelt, dass Kuhn ein Fall für die Nationalgalerie ist, hat keine Augen im Kopf. 

Immerhin gibt es jetzt die ersten Ansätze für eine breitere Rezeption. Der renommierte Berliner Galerist Jörg Johnen – er hatte Jeff Wall, Thomas Ruff oder Dan Graham im Programm – ist ein glühender Verehrer und Sammler Beate Kuhns und schwärmt: »Sie gehört zu den eigenständigsten Künstlerinnen nach 1945. Ich sehe Berührungspunkte mit Eva Hesse und Louise Bourgeois, aber auch zu berühmten Keramikern wie Ken Price.« Mittlerweile bemüht sich der New Yorker Keramikhändler und Tefaf-Aussteller Jason Jacques ebenso um Kuhns Werk wie jetzt die Berliner Galerie Esther Schipper. Und als 2015 im Kölner Auktionshaus Herr die Skulptur »Ballett« zum Aufruf kam, fiel der Hammer bei 16 000 Euro – ein Rekordpreis für deutsche Studiokeramik. Aber in der Regel bewegen sich die bedeutenderen Werke, sofern sie überhaupt auf den Markt kommen, immer noch im mittleren vierstelligen Bereich.

Löblicherweise werden jetzt auch einige Museen für Beate Kuhn aktiv. Das Leipziger Grassimuseum erhielt von der Familie den schriftlichen Nachlass. Kuhns größter Anhänger im Haus ist Direktor Olaf Thormann: »Sie hat die Grenzen der Keramik überwunden, indem sie skulpturales Denken mit den Möglichkeiten des Materials verband.« Thormann, der mit der Arbeit an einem wissenschaftlichen Werkverzeichnis begonnen hat, rechnet derzeit mit rund 5000 Werken, die sich nachweisen lassen.
Die Neue Sammlung in München veranstaltete im letzten Jahr die wohl spektakulärste Kuhn-Ausstellung, die es je gegeben hat. Mit der Schenkung der Sammlung Freiberger kam das Museum auf einen Schlag in den Besitz von rund 200 Objekte der Künstlerin. »Mit genuin keramischen Mitteln entwickelte sie eine völlig neue künstlerische Ausdrucksweise. Sie ist singulär und entzieht sich jeglicher simplifizierenden Einordnung«, würdigt Oberkonservator Josef Straßer die Leistung Beate Kuhns. Vom 16. März bis 14. April ist in der Galerie Esther Schipper in Berlin eine Ausstellung von Werken aus dem Nachlass zu sehen – und zu erwerben.

Service

Abbildung ganz oben

Beate Kuhn Mitte der Fünfzigerjahre mit Porzellanvasen, die sie für Rosenthal entwarf.
Credit: Familienbesitz Kuhn

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Dieser Beitrag erschien in

WELTKUNST Nr. 126/2017

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