Ausstellungen

Heiliger Bombam: Gilbert & George im Interview

Sprengkraft hatte die Kunst von Gilbert & George schon immer, doch jetzt legen sich die beiden mit den religiösen Fundamentalisten an. Und zeigen ihre Werke in Berlin ausgerechnet in einer Kirche.

Von Tim Ackermann
17.05.2017

Gilbert & George mögen keine Kirchen. Und jetzt steht trotzdem auf dem Tisch vor ihnen dieses Pappmodell eines Gotteshauses. Als der Kurator Walter Smerling eine Ausstellung in der St.-Matthäus-Kirche am Berliner Kulturforum vorschlug, hätten sie ihm eigentlich absagen wollen, erzählt Gilbert. Doch dann sei ihnen mitten im Telefonat eine Idee gekommen – man könnte ja die Kirchenfenster mit Wänden zustellen und den Raum wie ein Museum nutzen. Und so wurde ihr Plan doch Teil des Kunstprojekts „Luther und die Avantgarde“ zum 500. Jahrestag des berühmten Thesenanschlags: In Wittenberg werden ab dem 19. Mai in einem alten Gefängnisbau 66 Künstler auf das Reformationsjubiläum reagieren. In Kassel eröffnen zeitgleich Shilpa Gupta und Thomas Kilpper eine Ausstellung in der Karlskirche. Gilbert & George sollen den Berliner Außen- posten übernehmen.

Angriffslustig und explosiv

Wir sitzen im Atelier des Künstlerpaars im Londoner East End. Wie stets sind die beiden in makellose Tweed-Anzüge gekleidet: Gilbert in einem grünlichen Ton, George in einen bräunlichen. Der Südtiroler Gilbert und der Südengländer George lernten sich 1967 an der St. Martin’s School of Art kennen. Als „Lebende Skulpturen“ treten sie in Performances auf, und in Fotoarbeiten beschäftigen sie sich mit großen Themen der Menschheit wie Liebe, Gewalt, Sex, Religion und Körperflüssigkeiten. Die Schau in der St.-Matthäus-Kirche dürfte eine ihrer spektakulärsten werden: Die Serie der „Scapegoating Pictures“ von 2013 – „Sündenbock-Bilder“ – ist fulminante Kunst in Zeiten von Fundamentalismus und Terror. Blutrot und düster. Angriffslustig und explosiv.

Wird die Ausstellung mit ihrem eindrucksvollen Bildprogramm in doppelter Hängung die Sixtinische Kapelle der Kunst von Gilbert & George?
GILBERT: Wir denken eher an die Cappella degli Scrovegni in Padua mit ihren Giotto-Fresken. Auf jeden Fall müssen es möglichst viele Werke sein. Ein Bild allein macht noch kein G-&-G-Erlebnis. Es erzeugt nicht genug Atmosphäre, schafft noch keine eigene Welt.
GEORGE: Als der Pfarrer von unserer Idee hörte, wurde er sehr nervös. Er bat uns, einige Fenster offen zu lassen. Weil es in der Bibel heißt: „Der Herr ist mein Licht!“ Am Ende hat er sich damit getröstet, dass vielleicht auch der Altar das Licht sein könnte.

Ich wollte mit Ihnen über das Thema Religion reden. In einem früheren Interview haben Sie gesagt: „Religionen nehmen uns die Freiheiten, für die wir seit Jahrhunderten gekämpft haben.“
GT: Das stimmt.

„Wir wohnen hier genau zwischen den Religionen“

Und doch nehmen Sie teil an einem Ausstellungsprojekt, das sich auf Luther bezieht, eine Figur der Kirchengeschichte.
GT: Es ist doch sehr interessant, dass es Luther gelang, sich von Rom zu distanzieren. Wir sind auch sehr stolz auf Henry VIII, weil es ihm durch eine Scheidung gelungen ist …
GE: … sich von Rom zu lösen.
GT: Danach konnte er zum ersten Mal frei sein. Wir alle sind doch Gefangene der Religionen. Wir sind keine freien Menschen. Nur mithilfe der Aufklärung konnten wir uns selbst befreien!
GE: Wir sagen immer: „Wir sind griechisch-römisch-jüdisch-christliche Säkularisten – ob wir wollen oder nicht!“
GT: Wissen Sie, wir wohnen hier genau zwischen den Religionen: An einem Ende unserer Straße steht die Christ Church, eine der wichtigsten barocken Kirchen Englands …
GE: … und im Eckhaus am anderen Ende der Straße befindet sich die Brick-Lane-Moschee, die hauptsächlich von Muslimen aus Bangladesch besucht wird.

Zwei Kraftfelder, die sich überlappen. Und mittendrin leben Gilbert & George.
GT: Wir finden es erstaunlich, dass das mit der Religion immer noch so weitergeht. Es gab Darwin, nicht wahr? Wir wissen genau, von wem wir abstammen. Aber diese Menschen glauben einfach nicht daran. Nein, sie müssen sich unbedingt Götter erfinden. Das ist es, was sie anbeten: Götter, die von ihnen selbst, von Menschen, gemacht sind.
GE: Sicher. Aber allein das zu sagen kann einen umbringen, wenn man am falschen Ort ist. Wir haben das Privileg, hier im Westen Europas in einem magischen Reich der Sicherheit und Freiheit zu leben. Gleiches gilt für die USA, Australien und vielleicht ein paar kleine Außenposten wie Hongkong. Im Rest der Welt regiert Mord und Totschlag.

„Jemanden zu küssen war eine Todsünde!“

Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit der Religion gemacht? Woran erinnern Sie sich aus Ihrer Kindheit?
GE: Du bist Katholik, Gilbert, ich Protestant: zwei verschiedene Erfahrungen!
GT: Ich hatte eine extrem katholische Erziehung. Unvorstellbar! Die Traditionen in den Tälern der Dolomiten sind sehr streng. Allein die Vorstellung der Sünde: Jemanden zu küssen war eine Todsünde! Auf der Kunsthochschule habe ich mich schnell davon frei gemacht. Und aufgehört, in die Kirche zu gehen, habe ich mit etwa 15 Jahren, in München. Als mich ein Pfarrer fragte, ob ich masturbiere.

Oh mein Gott!
GT: Das war’s. Danach bin ich nie wieder hingegangen.

Und Sie, George?
GE: Ich wurde als Methodist erzogen. Wir durften stolz darauf sein, dass wir einen Schritt weiter als die Anglikaner waren, ein wenig freiheitlicher. Es war der Erweckungsprediger John Wesley, der sinngemäß gesagt hat: „Steht auf in der Kirche! Ihr Menschen braucht nicht unter Gott in Angst zu sitzen! Genieße dein Leben und deine Arbeit. Sei ein stolzer Mensch.“

 

„Wenn mir heute ein Pfarrer begegnet, nehme ich die Beine in die Hand und renne!“

Sie hätten also nicht mit Kirchen brechen müssen, haben es aber dennoch getan?
GE: Ich bin da irgendwie herausgerutscht.
GT: Wenn mir heute ein Pfarrer begegnet, nehme ich die Beine in die Hand und renne!

Nun werden Sie die „Scapegoating Pictures“ in der St.-Matthäus-Kirche in Berlin zeigen. Wie wird der Kirchenraum die Lesart der Bilder beeinflussen?
GT: Positiv! In Museen schauen die Besucher nur kurz auf die Bilder und laufen gleich weiter. Das geht in einer Kirche nicht.
GE: Die Erfahrung in einer Kirche ist fesselnder. Man schaut viel bewusster. Die ganze christliche Bildtradition lastet auf den Werken. Und warum, frage ich Sie, sollte in einer Kirche nur alte Kunst zu sehen sein? Warum keine modernen Bilder? Die Predigt muss ja auch zeitgemäß sein. Sie wird ständig erneuert, sonst funktioniert sie nicht. Jetzt kommen wir zu einer Besonderheit der „Scapegoating Pictures“: Auch diese Serie erhält aus einem so erstaunlichen wie offensichtlichen Grund immer wieder – jeden Monat, alle zwei Monate – neue Relevanz.
GT: In diesen Bilder steckt alles drin. Sie zeigen, was gerade in der Welt geschieht.
GE: Wir alle kennen mittlerweile diese schrecklichen Dinge: Menschen, die erschossen oder von Bomben zerfetzt werden. Autos, die in Menschenmengen rasen. Diese Nachrichten sind Teil unseres tagtäglichen Medienfutters geworden.
GT: Und der liberale Westen hat ein Problem: Er findet einfach keine Lösung, wie er mit dem Terror umgehen soll.

Lachgas, im Englischen whippets ge­nannt. Wie sind Sie auf die gekommen?
GE: Die whippets fielen uns auf, noch bevor sie zur Modedroge wurden. Zuerst fanden wir sie in einer Seitenstraße hier im East End. Es ist einsam dort, du kannst ungestört dein Auto parken und dir ein bisschen Lachgas genehmigen. Wenige Monaten später waren die whippets überall. Die Straßen waren morgens übersät damit. Tausende. Sie waren ein Teil des modernen Alltagslebens geworden. Also begannen wir sie aufzusammeln.
GT: Wir leben seit 50 Jahren in diesem Viertel und haben den Eindruck, dass sich hier die ganze moderne Welt bündelt. Jeder, der hier lebt, kommt von irgendwo anders her. Das East End ist ein Kosmos der Menschheit. Man sieht hier Frauen in Burkas. Unglaublich, oder? Es fällt plötzlich schwer, zu bestimmen, wo man eigentlich genau ist. Aber nicht nur das: Es geht auch darum, was diese Menschen repräsentieren und was sie sagen.

„Und wir sind natürlich immer die Ungläubigen.“

Was sagen sie denn?
GT: Wir sammeln seit 20 Jahren Flugblätter, die an Laternenpfählen kleben.
GE: „Voting is haram!“ Das bedeutet, dass Sie in die Hölle kommen, wenn Sie wählen gehen. Weil unsere Gesetze von Menschen gemacht wurden und nicht von Gott.
GT: Und wir sind natürlich immer die Ungläubigen. Diese Flugblätter sind der Ausdruck einer religiösen Diktatur.
GE: „Ist Ihnen bewusst, dass unsere Schulen Atheismus und Homosexualität predigen?“ Das fand ich am besten.

So etwas hängt an Laternenpfählen?
GE: Auf Aufklebern. Überall.
GT: Wir haben eine riesige Sammlung von Aufklebern. Man muss als Künstler gar nichts erfinden. Man muss nur die Augen aufmachen.
GE: Und niemand spricht darüber. Nicht einmal die Lokalpresse. Stellen Sie sich vor, Sie würden ein Flugblatt für die Gegenseite produzieren. Da würde umgehend die Polizei an Ihre Tür klopfen.

Es ist wohl kein Zufall, dass die whippets in Ihren Werken wie Bomben aussehen?
GE: Nein, das haben Sie richtig beobachtet. Die whippets erinnern an Bomben und Gefahr. Wir fanden sie jedoch auch wegen der Biografie des Chemikers interessant, der das Lachgas wissenschaftlich nachgewiesen hat. Sein Name war Joseph Priestley.

Joseph Priestley – der „priesterliche Josef“ also. Der Name passt zum Thema.
GE: Richtig. Priestley war ein großer Befürworter der Aufklärung. Als Mitglied der berühmten Lunar Society in Birmingham tauschte er sich mit anderen Wissenschaftlern wie Darwin oder James Watt aus. Außerdem war er in London ein Mitbegründer der ersten unitarischen Kirche Englands, deren offene Glaubenslehre hart bekämpft wurde.

Sind die whippets in Ihren Werken also kleine Aufklärungsbomben?
GE: Vielleicht. Aber sie sehen eigentlich eher nach Killer-Bomben aus. Sie haben etwas Militärisches. Dieses ganze Metall.
GT: Wie Sprengstoffgürtel!

In einigen Bildern haben Sie sich die Fläschchen auf die Körper geschnallt.
GT: Ja. Denn solche Selbstmörderwesten sind tatsächlich eine moderne Erfindung. Vor 20 Jahren war davon noch keine Rede, und heute geht es in den Nachrichten um nicht anderes mehr.
GE: Wir mögen auch das sexuelle Element daran: Die Jungs, die sich in die Luft sprengen, wickeln vorher ölige Lappen um ihre Genitalien, damit diese unversehrt bleiben, für die 72 Jungfrauen, die sie im Himmel erwarten. Alles schön eingeölt. Wundervoll!

Das ist verrückt!
GE: Total verrückt. Ich würde diese Jungs gerne eines fragen: Warum sprengt ihr euch eigentlich in die Luft? Jungfrauen gibt es doch auch hier unten! (Gelächter)

In der Religion geht es implizit ja immer um die Kontrolle des Körpers. Ihre Kunst dagegen scheint mir eine große Feier des freien Körpers zu sein.
GT: Im Zentrum unserer Kunst steht der Mensch: wir selbst!

 

Sie versuchen, mit Ihren Werken möglichst viele Menschen zu berühren. Geht es bei der Kunst von Gilbert & George am Ende um die ewige Liebe? 
GE: Die Liebe ist eine der mächtigsten Kräfte. Denken Sie an die Vielzahl von Liebesliedern, Liebesgedichten, Liebesgeschichten, die es auf der Welt gibt! GT: Es ist eine unglaubliche Reise für uns beide. Wirklich außergewöhnlich.
GE: Wir hätten es nicht ohne einander geschafft, nicht wahr, Gilbert?
Wir hätten viel zu viel Angst gehabt. 50 Jahre ist es her, dass wir uns getroffen haben.
GT: 50 Jahre! Und alle haben uns gesagt: „Sehr amüsant, aber es wird niemals halten.“
GE: Weil nichts hielt in dieser Zeit. Wir reden von den Siebzigern: Alle ließen sich scheiden oder hatten offene Beziehungen und solche Dinge.
GT: Es ist wirklich interessant: Sie haben uns zu Außenseitern gemacht, und wir haben uns aneinander festgehalten, um etwas Positives daraus zu gewinnen. Denkst du nicht auch, George?
GE: Doch. Feinde sind sehr wichtig.
GT: Und so sind wir zu dem geworden, was wir heute sind: die lebenden Skulpturen. Die langsam dem Tod entgegengehen.

Oh nein!
GT: Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind noch sehr lebendig.
GE: Wir nennen das „Die große deutsche Frage“. Denn immer, wenn wir eine Pressekonferenz in Deutschland geben, steht jemand auf und fragt (er imitiert eine Art Nazi-Filmbösewicht-Akzent): „Planen Sie zusammen zu sterrrrben?“ Diese Frage wird uns nur in Deutschland gestellt!

Oje, ich fürchte, deutsche Journalisten sind oft recht taktlos und direkt. Ich stelle jetzt auch mal eine direkte Frage: Wie finden Sie eigentlich den Brexit?
GE: Sehr gut!
GT: Die EU fällt ohnehin auseinander. Sie ist ein künstliches Konstrukt.
GE: Stellen Sie sich vor, wie man sich gerade als Grieche fühlen muss. Schrecklich! Der ganze Stolz ist weg.
GT: Ich mag am Brexit, dass die Menschen zum ersten Mal wieder nachdenken, was sie wirklich wollen. Vorher mussten sie nie über etwas nachdenken.
GE: Es wird zu viel Aufhebens darum gemacht. Großbritannien sollte einfach gehen. Die EU ist ein Club. Sie ist kein Gefängnis, aus dem niemand ausbrechen darf.
GT: Eins ist uns sehr wichtig: Wir wollen nicht predigen. Wir sagen nie: „Tu dies oder tu das!“ Wenn wir ein Banner mit dem Slogan „Verbietet die Religionen!“ ausstellen, was wir 2015 in einer Londoner Galerie getan haben, meinen wir das nicht wörtlich. Aber unsere Übersetzung ist doch, dass diese Welt ohne Religionen eine bessere wäre. Es würde eine Menge Druck aus dem Leben der Menschen nehmen, denken Sie nicht?
GE: Warten Sie, ich lese Ihnen einen Text vor, den wir in den „Scapegoating Pictures“ verarbeitet haben: „Die Wiedererweckung des islamischen Bewusstseins in der muslimischen Bevölkerung Großbritanniens hat Höchstgeschwindigkeit erreicht. Immer mehr Muslime erkennen, dass es keine Kompromisse bei der Umsetzung der Scharia geben darf. Schon bald wird über dem Sitz der britischen Regierung die schwarze Flagge des Islam wehen.“

„Legt euch mit jemandem an, Leute! Sagt etwas! Irgendwas!“

Wow.
GE: Überkommt Sie auch ein leichtes Frösteln? Dieser Text stand auf einem Poster, das hier überall zu lesen war. In jeder Straße, an jedem Laternenpfahl!

Das ist wirklich heftigste fundamentalistische Propaganda. Macht Ihnen das keine Angst, hier zu leben?
GE: Oh nein!
GT: Das ist eine fantastische Inspirationsquelle für unsere Kunst! GE: Wir fragen uns bei so etwas nur, wie sich manche Künstler damit zufrieden geben können, eine simple Linie auf ein Blatt zu zeichnen. (Er zieht einen unsichtbaren Strich mit der Hand in die Luft.) Legt euch mit jemandem an, Leute! Sagt etwas! Irgendwas!

Service

Abbildung

Zwei gegen den Einen: Gilbert & Georges Fotoarbeit „Airdrop“ (2013) (Foto: Gilbert & George)

DIESER BEITRAG ERSCHIEN IN

WELTKUNST Nr. 128/2017

Zur Startseite