Ausstellungen

Ein Durchbruch für Europa

Sind wirklich schon alle Facetten von Henry Moores künstlerischem Schaffen ergründet? Am 10. November eröffnete das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster eine umfassende Schau zu dem englischen Bildhauer und seinem Einfluss auf europäische Künstler, die neue, impulsgebende Aspekte aufspürt

Von Verena Emke
10.11.2016

Es ist kaum möglich sich seinen abstrakten Skulpturen zu entziehen. Die Arbeiten des in Yorkshire aufgewachsenen Bildhauers Henry Moore (1898–1986) zählen zu den bedeutendsten Formfindungen des 20. Jahrhunderts und sind der Stolz jeder modernen Museumssammlung. Seit den 1950er-Jahren prägen seine großen Freiplastiken auch den urbanen Raum. Die Henry Moore Foundation kennt allein in Deutschland 22 Objekte auf öffentlichen Plätzen und in Parkanlagen. 

Münster versammelt seit wenigen Wochen gleich vier monumentale Bronzegüsse im Stadtzentrum. An die von der WestLB in den Siebzigerjahren angekaufte und in Sichtweite des Aasees aufgestellte Plastik „Three Piece Sculpture: Vertebrae“ haben sich die Münsteraner längst gewöhnt, neu sind hingegen drei Leihgaben aus Berlin, Recklinghausen und Wuppertal, die anlässlich der Ausstellung „Henry Moore – Impuls für Europa“ im LWL-Museum für Kunst und Kultur, ihren Weg in die westfälische Universitätsstadt gefunden haben. Noch bis zum Ende der Schau am 19. März 2017 werden sie den 2014 neu eröffneten Museumsbau rahmen.

Ziel des ambitionierten Ausstellungsprojektes, welches in Kooperation mit der Tate London entwickelt wurde, ist es, das bereits vielfach ausgestellte Werk Moores durch einen facettenreichen Themenkomplex zu erweitern. Von seinen berühmten Mutter-Kind-Plastiken über die archaisch anmutenden Helm- und Maskenobjekte bis hin zu seinen farbenreichen Lithografien und Zeichnungen zeigt sie in Gegenüberstellung zu anderen künstlerischen Positionen, welche Wirkkraft seine Kreationen auf die europäischen Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg ausübten. Dazu zählen Theo Balden, Joseph Beuys, Karl Hartung, Bernhard Heiliger, Brigitte Meier-Denninghoff oder Markus Lüpertz. Auf fünf weitläufige Räume im Obergeschoss des Museumsbaus verteilen sich insgesamt 120 Exponate aus öffentlichen und privaten Sammlungen.

Es ist Moores außergewöhnliche Formensprache, die seine Bedeutung für die Kunstwelt begründet: Ausgehend von seinen frühen Studien zu präkolumbischer und mexikanischer Kunst in den 1920er-Jahren, steigern sich seine zunächst noch an die Ausdrucksformen indigener Völker angelehnten Figuren aus Portland-Stein oder Gneiss im Laufe der Jahre zu immer stärker abstrahierten Kompositionen aus Bronze. Dahinter stand sein Bestreben, die Natur und den menschlichen Körper ästhetisch miteinander zu vereinen. Dies führte unweigerlich zur Auflösung der Grenzen zwischen Raum und Objekt, indem er durch Löcher, Durchbrüche und Aushöhlungen seine in sich geschlossenen Figuren fragmentierte und damit gleichsam eine symbiotische Verbindung mit dem Außenraum schuf. Ohne dieses wechselvolle Spannungsverhältnis zwischen Raum und Material, zwischen Figuration und Abstraktion, sind seine Kunstwerke nicht zu denken. Beispielhaft steht hierfür die Serie seiner Liegenden („Reclining Figures“). Ihrer anatomischen Grundelemente, etwa der Wirbelsäule, beraubt, verschmelzen die Körper aufgrund ihrer biomorphen Gestalt mit der Landschaft und lassen menschliche Züge und Gliedmaßen lediglich erahnen. Dabei experimentieren insbesondere die weiblichen Muttergestalten mit Kind aufgrund ihrer mächtigen Extremitäten mit der Bildsprache von Schutz und Geborgenheit.

Seine Zeichnungen aus den Londoner U-Bahn-Schutzräumen von 1941 geben Einblick in die düstere Realität der europäischen Kriegsvergangenheit

Als überraschender Gegenpol zu seinen meist sinnlichen Frauendarstellungen erweisen sich Moores skizzierte Eindrücke aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Schau präsentiert vier Zeichnungen aus dem Jahr 1941, auf denen er  Zuflucht suchende Menschen in den Londoner U-Bahn-Schutzräumen während der deutschen Luftangriffe mit Tinte, Wachs und Aquarell auf Papier festhält. In Etagenbetten Schlafende und auf dem Boden kauernde Gruppen geben Einblick in die düstere Realität der europäischen Kriegsvergangenheit.

Henry Moore war jedoch nicht nur ein Impulsgeber für die nachkommende Generation junger Künstler, sondern ließ sich ebenso von seinen stilprägenden Mitstreitern wie Hans Arp, Alberto Giacometti oder Pablo Picasso  inspirieren. Auch hierfür finden sich Beispiele in der Ausstellung. Den wechselseitigen Austausch mit seinen Zeitgenossen veranschaulicht unter anderem die gelungene Zusammenstellung  von Henry Moores „Stringed Figure“ (Entwurf 1938, Ausführung 1960) und Barbara Hepworths „Maquette for Winged Figure“ von 1957. Beide verband nicht nur eine jahrelange Freundschaft, sondern auch eine Affinität zur Natur, die sich in ähnlichen gestalterischen Lösungen äußert. Die zwei ausgestellten Kleinplastiken zeigen, dass sowohl Hepworth als auch Moore, fasziniert von der stofflichen Qualität ihres verwendeten Materials, einzelne Elemente ihrer Skulpturen mit feinen Fäden organisch verbanden, indem sie die Fäden mit dem Metall visuell vernähten. 

Die Ausstellung im LWL-Museum für Kunst und Kultur beweist, dass längst nicht alle Facetten von Henry Moores Schaffensphasen genügend beleuchtet wurden und sich insbesondere im Dialog mit Werken anderer Künstler zeigt, dass er seine Ausdruckskraft nicht nur aus dem Reichtum der Natur schöpfte, sondern sich ebenso von der Bildsprache anderer inspirieren ließ.

Service

AUSSTELLUNG:

„Henry Moore. Impuls für Europa“, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster, 11. November 2016 bis 19. März 2017

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