Ausstellungen

Wie Würzburg und Ingolstadt die Konkrete Kunst feiern

Hier treffen sich Freunde des visuellen Reinheitsgebots: In Würzburg und Ingolstadt locken überregional bedeutende Museumssammlungen für konkrete Kunst

Von Tim Ackermann
22.07.2016

Was sehen wir, ein Bild oder ein Trugbild? Schon aus der Entfernung betrachtet, von der gegenüberliegenden Wand, flirrt die Leinwand wie eine Fata Morgana. Als sei das Gemälde im Raum präsent und gleichzeitig weit weg. Treten wir näher heran, regt sich Leben in den blauen, roten, grünen Linien. Sie geraten in Bewegung, ziehen sich an manchen Stellen scheu zurück, an anderen wölben sie sich dagegen umso aufdringlicher dem Betrachter entgegen und erzeugen so den Eindruck einer plastischen Räumlichkeit, die man glaubt mit den Händen fassen zu können – bis man in Luft greift. Niemals kommt das Auge zur Ruhe. Die an- und abschwellenden Linien sind wie eine Welle, die kontinuierlich an den Ufern des Bewusstseins anbrandet. In einer Zeit, in der wir Bildern nur wenige Sekunden an Aufmerksamkeit schenken, möchte man eine Ewigkeit vor diesem Anblick verharren.

Bridget Rileys Gemälde „K’ai ho“ (1974) beherrscht den Raum im zweiten Obergeschoss des Museums im Kulturspeicher Würzburg. Das Bild der englischen Malerin zählt zu den Höhepunkten der Sammlung Peter C. Ruppert mit konkreter Kunst nach 1945, die im Südflügel des alten Speichergebäudes am Mainhafen auf drei Etagen und 1850 Quadratmetern als Dauerleihgabe zu sehen ist. Seit der Eröffnung des Museums im Jahr 2002 treffen in dem zum White Cube ausgebauten Gemäuer die strengen Quadrate und Dreiecke in der Malerei des Zürcher Konkreten Max Bill auf die rotierenden Scheiben des belgischen Kinetikkünstlers Pol Bury oder die blickverknotende Op-Art von Victor Vasarely. Der Nordflügel des Museums beherbergt die städtische Sammlung mit Bildern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, klangvolle Namen wie Max Slevogt oder Hans Purrmann sind vertreten. Und doch ist es die Kollektion ungegenständlich-geometrischer Kunst, die überregionale Anziehungskraft entfaltet: „Wir erleben, dass Besucher gezielt dafür anreisen, nicht nur aus ganz Deutschland sondern auch aus den Beneluxländern, Italien oder England“, erzählt die Direktorin Marlene Lauter. 

Es mag nicht jedem Kunstliebhaber sofort einleuchten, dass Bayern als Pilgerregion für Fans der konkreten Kunst gilt. Und doch: Hier, zwischen Nürnberg und München, ist in der Nachkriegszeit eine vernetzte Szene gewachsen. Mit Rupprecht Geiger, Günter Fruhtrunk und Georg Karl Pfahler stammen gleich drei deutsche Hauptvertreter der konkreten Malerei aus Bayern. Und kaum 150 Kilometer Luftlinie von Würzburgs Kulturspeicher entfernt existiert in Ingolstadt ein Museum mit demselben Schwerpunkt. Auch dorthin wird uns die Reise führen, doch lohnt es sich, noch ein wenig im Kulturspeicher zu verweilen. Denn die Kollektion, die das Berliner Sammlerpaar Peter C. Ruppert und Rosemarie Ruppert über 30 Jahre zusammengetragen hat, verbildlicht in starken Einzelwerken von Künstlern aus 23 Ländern die Grundprinzipien der konkreten Kunst.

„Konkrete Malerei, nicht abstrakte, weil nichts konkreter, nichts wirklicher ist als eine Linie, eine Farbe, eine Fläche.“ So beschreibt es der niederländische Maler Theo van Doesburg im Jahr 1930. Und weiter: „Eine Frau, ein Baum, eine Kuh sind konkret in der Natur, aber in der Malerei sind sie abstrakt, illusorisch, vage, spekulativ; eine Fläche hingegen ist eine Fläche, eine Linie eine Linie, nicht mehr und nicht weniger.“ Es ist ein revolutionärer Gedanke, dass die Kunst nicht die Natur, sondern allein sich selbst abzubilden habe, und er stammt aus einer revolutionären Zeit und Kunstrichtung: dem russischen Konstruktivismus. Ausgehend von den Kompositionen Malewitschs und Tatlins hatte van Doesburg seine Vision einer rein selbstbezüglichen Kunst bereits 1917 bei der Gründung der De-Stijl-Gruppe um Piet Mondrian einfließen lassen. Doch an keiner Stelle ist seine Haltung so klar formuliert, wie in seinen „Kommentaren zur Grundlage der konkreten Malerei“, die im Jahr 1930 zum Manifest für die Pariser Gruppe Art concret wurde.

Anton Stankowskis Gemälde gaukelt dem Auge Quadratformen vor, wo gar keine sind.

Mit den Worten „Kunst ist universell“ beginnt van Doesburg dieses Manifest und bezieht die Universalität ausdrücklich nicht nur auf die Rezeption von Kunst, sondern auch auf die Produktion. „Die Technik muss mechanisch sein“, legt er ein paar Sätze später nach. Dementsprechend verneinen die meisten konkreten Maler individuellen Duktus oder gar gestische Expressivität. An deren Stelle treten Kompositionssysteme. So entsteht eine unterkühlte, intellektuelle, oft tatsächlich nahezu mechanische Kunst, die sich nicht selten unbestechlichen mathematischen Prinzipien unterwirft. Das Gemälde „Fünfzehn systematische Farbreihen mit vertikaler und horizontaler Verdichtung“ (1950/1967) des Zürcher Künstlers Richard Paul Lohse ist dafür in Würzburg ein prägnantes Beispiel. Und dann gibt es die Gegentendenz, bei der Künstler kleinere Ausbrüche aus der geometrischen Logik wagen. Anton Stankowski – der als Werbegrafiker 1974 das Logo der Deutschen Bank entwarf – lässt bei seinen „Schrägen Violett und Gelb“ (1975) menschliches Maß durch wohltuend aufgehelltes Kolorit erkennen und gaukelt dem Auge zudem ziemlich unwissenschaftlich Quadratformen vor, wo keine sind. Und ein Maler wie FranÇois Morellet brachte 1962 glatt den Zufall ins Spiel, als er die winzigen gelben und grauen Quadrate auf seiner Leinwand gemäß der Nummernfolgen anordnete, die ihm seine Verwandten aus dem Pariser Telefonbuch vorlasen.

Der im Mai dieses Jahres verstorbene Morellet gehörte zur zweiten Welle der konkreten Künstler, deren Karriere erst nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt. Der Nationalsozialismus hatte die Avantgarden bekämpft, in Bayern fasst die geometrische Kunst deshalb auch erst Ende der Vierzigerjahre Fuß. Zur wichtigen Figur wird der Schriftsteller Eugen Gomringer, der 1944 in Basel erstmals mit der konkreten Kunst in Berührung kommt und in den Fünfzigern das literarische Pendant, die konkrete Poesie, entwickelt. Gomringer freundet sich mit zahlreichen konkreten Künstlern an und kauft ihre Werke. Seit 1967 lebt er in Bayern. In der oberfränkischen Gemeinde Rehau gründet er im Jahr 2000 das Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie.
Gomringers Leidenschaft führt uns nun nach Ingolstadt, denn die Kunstsammlung des Autors wurde bereits 1981 von der Donaustadt als Grundstock für ein Ausstellungshaus erworben. 1992 eröffnete das Museum für Konkrete Kunst (MKK) in einer ehemaligen Kaserne nahe dem Fluss. Der Sammlungsbestand hat sich seither enorm vergrößert, von wenigen hundert auf über 3000 Werke, auch weil eine hauseigene Stiftung Vor- und Nachlässe von Künstlern wie Hartmut Böhm, Erich Buchholz, Hans Jörg Glattfelder, Christian Megert, Vera Molnár oder Klaus Staudt annimmt. Im Gegensatz zum eher enzyklopädischen Sammlungsansatz in Würzburg böte sich so in Ingolstadt die Möglichkeit, die Gesamtwerke einzelner Künstler in längerer Entwicklung zu zeigen – wenn nicht die Räume des Museums so klein wären, dass ein Großteil der Sammlung ins Depot verbannt ist.

„Das Museum platzt aus allen Nähten und ist ohnehin für einen zeitgemäßen Ausstellungsbetrieb nicht mehr adäquat“, sagt Direktorin Simone Schimpf. Die veraltete Klimatechnik sorge dafür, dass internationale Leihgeber mittlerweile einen Bogen um Ingolstadt machten.
Glücklicherweise wartet eine Lösung am Horizont: Anfang Juni haben die Arbeiten an der Halle der ehemaligen Königlich Bayerischen Geschützgießerei begonnen, die für 23,5 Millionen Euro in ein modernes Museum­ verwandelt wird. Ab 2019 soll das historische Gebäude mit seinen geplanten 2000 Quadratmetern Ausstellungsfläche eine vergleichbare Leuchtturmposition wie der Würzburger Kulturspeicher einnehmen. Bedeutende Exponate aus der Frühzeit der geometrischen Kunst wie zum Beispiel das Hinterglasbild „2Steigen im Kreis“ (1921) des Berliner Konstruktivisten Erich Buchholz oder sein sehenswert minimalistisches „Modell für ein Hochhaus am Potsdamer Platz“ von 1921/1922 wären dann endlich dauerhaft sichtbar.

Bis dahin wird man in Ingolstadt weiter lediglich Auszüge der Sammlung in Wechselausstellungen, häufig gemischt mit anderen zeitgenössischen Künstlern, präsentieren. Eine Entdeckung ist die Künstlerin Haleh Redjaian, die bis Mitte Juni im MKK ihre Werke zeigte. Die 45-jährige gebürtige Frankfurterin lässt in der iranischen Stadt Kerman Wandteppiche aus ungefärbtem Garn weben und bedruckt sie mit geometrischen Figuren, die an das Formenrepertoire eines Ellsworth Kelly erinnern. Der unebene Untergrund sorgt dabei für Unregelmäßigkeiten im Druck, leichten „Fehlern“ in den harten Kanten der Geometrie. Redjaians Teppiche beweisen, dass im MKK die konkrete Kunst nicht als klar umrissene Kunstrichtung verstanden wird, sondern vielmehr als die Idee einer künstlerischen Haltung, die auch postmodern gebrochen werden kann. Man sieht das an einem Sammlungswerk wie „Okay 2“ von Joachim Grommek, bei dem der Künstler auf eine weiß grundierte Leinwand die Maserung einer Spanplatte malt und darüber ein Netzwerk aus vermeintlichen Tesafilmstreifen klebt, die in Wahrheit jedoch ebenfalls aus Schichten von Lackfarbe bestehen. Grommeks Malerei ist weniger konkret als vielmehr die naturgetreue, illusionistische Annäherung an ein konkretes Bild.

Auf ähnliche Art zerrt auch der Künstler, der jetzt bis 9. Oktober in Ingolstadt ausstellt, an den Wurzeln der Konkreten Kunst. Herman de Vries ist ein sympathischer niederländischer Zausel aus dem Zero-Umfeld, der im fränkischen Steigerwald nahe Nürnberg lebt und einen radikal-ökologischen Kunstansatz vertritt. Seine Holzfundstücke und Serien von Steinen, die einen Teil der Ingolstädter Ausstellung ausmachen, sehen eher nach Arte Povera aus. Für Direktorin Schimpf passt de Vries trotzdem ins Profil. „Er bezeichnet sich selbst als konkreten Künstler“, sagt sie. „Es geht ihm um dieselben Themen. Um Struktur, um Systeme und um die Brechung von Systemen.“ Nachvollziehbar wird das, wenn man eine Arbeit wie „from earth – deutschland“ (2006) betrachtet: De Vries hat dafür Erdproben aus 504 verschiedenen Regionen Deutschlands eingesammelt und anschließend auf Papier „ausgerieben“. Formal nahm er dabei die strenge Rasterstruktur auf, die so viele Werke der konkreten Künstler auszeichnet. Es ist ein Beleg für die wunderbare Anpassungsfähigkeit dieser Kunst, dass ihr der Niederländer van Doesburg einst die Natur aufs Gründlichste ausgetrieben hat – und dass ein anderer Niederländer sie nun klammheimlich wieder hineinreibt.

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