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Im Morgengrauen auf den Floating Piers von Christo

Brennende Sonne, drängende Menschenmassen: Ein Spaziergang auf Christos gigantischem Steg-Kunstwerk „Floating Piers“ verlangt dem Besucher einiges ab. Um dem Trubel zu entgehen, machte sich unsere Mitarbeiterin Juliane Lang ganz früh auf den Weg. Und erlebte einen paradiesischen Morgen auf dem Lago d’Iseo.

Von Juliane Lang
27.06.2016

Bereits kurz hinter Mailand, etwa eineinhalb Autostunden vom Ziel entfernt, zeigt die digitale Leuchttafel auf der Autobahn die richtige Ausfahrt für die Besucher an. Seit der Eröffnung am 18. Juni strömen sie zahlreich in die Region um den Lago d’Iseo, in der Hoffnung ein paar Stunden auf den „Floating Piers“ des Verhüllungskünstlers Christo zu verbringen, einem gigantischen Steg-Parcours, der sich wie ein riesiger, oranger Blitz im Blau des Iseo-Sees abzeichnet.

Christo ist längst zur Marke geworden, sein aktuelles Projekt wieder einmal zum Massenspektakel. Christos Werke sind von kurzer Dauer aber intensiv, sie wollen radikal-veränderte Blicke auf vertraute Orte schaffen. Für „The Floating Piers“ hat der bulgarische Künstler mit der Unterstützung von 600 Arbeitern 220.000 Polyethylen-Würfel mit 100.000 Quadratmeter Stoff überzogen. Das Ergebnis sind drei Kilometer Stege über den See, die dem Besucher eine unvergleichliche Erfahrung versprechen.

Noch im Morgengrauen erreichen wir die kleine Gemeinde Sulzano, von wo aus der gelb-leuchtende Nylonstoff die Besucher bereits durch die engen Gassen des Ortes zum ersten Steg leitet. Einige hundert Meter führt er über den See zur Insel Monte Isola. Uneben und in der morgendlichen Sonne funkelnd, ein wenig wie Sand, fühlt sich der Stoff unter den nackten Füßen an. An den Rändern schwappt Wasser hoch und färbt den gelben Stoff in tiefleuchtendes Orange.

Auf der Insel Monte Isola erstrecken sich die Stoffbahnen die Promenade entlang bis zu einem zweiten Steg zur Insel San Paolo. Eine Kreuzung teilt den Steg bevor er um die Insel herum führt. Hier draußen weht der Wind. Der Steg passt sich dem Wellengang an und lässt unseren Atem freier werden. Verschlafene Besucher wandeln über die Stoffbahnen oder liegen, um den Wellenbewegungen nachzuspüren. Hier ist man dem Wasser näher als dem Land.

Die Idee übers Wasser zu gehen hatten Christo und seine 2009 verstorbene Frau Jeanne-Claude bereits in den Siebzigerjahren. Ein geplantes Projekt für das Delta des Rio de la Planta in Argentinien, das aber nie verwirklicht wurde.

Dem Wasser näher als dem Land

Jetzt entstand „The Floating Piers“ in Zusammenarbeit mit dem Kunstkritiker und Kurator Germano Celant. Es markiert Christos Rückkehr nach Italien nach vierzig Jahren und ist das erste Projekt, das er ohne seine verstorbene Frau verwirklichte.

Wie alle seine Projekte finanzierte Christo „The Floating Piers“ selbst. Die künstlerische Freiheit ist ihm wichtig, er möchte unabhängig bleiben. Die Kosten für „The Floating Piers“ lagen bei rund 15 Millionen Euro. Über den Verkauf von Zeichnungen, Fotos und Visualisierungen des Projektes refinanziert Christo seine Ausgaben.

Eine Vorschau und Ausstellung von „The Floating Piers“ zeigte die Galerie Gmurzynska in Sankt Moritz. Dort standen vom 15. Februar bis 30. März 2016 Zeichnungen, Skizzen und Fotocollagen zum Verkauf. Das Projekt zeuge von der „ungebrochenen Kraft und Hingabe” des Künstlers „in einer Zeit kurzlebiger Trends und Karrieren in der Gegenwartskunst”, sagt Mathias Rastorfer von der Galerie Gmurzynska. „The Floating Piers” stehe deshalb „beispielhaft für die besten Qualitäten der großen Künstler des 20. Jahrhunderts: Tiefgang und Beharrlichkeit.”

Die aufwendige Ausstellung ist nur 16 Tage zu besichtigen, danach werden alle Materialien recycelt. „Das Werk muss verschwinden, weil es mir nicht gehört. Es gehört niemandem. Deshalb ist es frei“, sagt der Künstler. Christos Kunst ist nicht festzuhalten, nur zu erleben. Dabei kurz wie das Leben selbst, so der 81-Jährige. Für ihn sei das Leben eine Reise, Stillstand undenkbar.

Mit Sonnenaufgang verändert sich die Farbe des Stoffs, leuchtet unterschiedlich je nach Lichteinfall. Wir haben den Großteil der drei Kilometer übers Wasser zurückgelegt und machen uns auf den Rückweg. Es ist 7 Uhr morgens. Die ersten Reisebusse und Züge haben Sulzano erreicht. Auch heute werden wieder mehrere zehntausend Besucher den See überqueren, um Christos Kunst zu erleben.

Noch erfahrbar ist „The Floating Piers“ bis zum 3. Juli 2016.

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