Willy Ronis bei Artcurial

Chronist der kleinen Leute

Artcurial versteigert Arbeiten aus dem Nachlass des Pariser Fotografen Willy Ronis, der in Deutschland noch wenig bekannt ist. Darunter Aufnahmen seiner Reise in die DDR in den 1960er-Jahren

Von Ivo Kranzfelder
13.12.2021
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 20

Im Jahr 2005 ehrte ihn die Stadt Paris mit einer großen Ausstellung im Rathaus. Der Eintritt war frei, es bildeten sich lange Schlangen vor dem Eingang, in den etwas über drei Monaten Dauer kamen über eine halbe Million Besucher. Die Rede ist von Willy Ronis, einem Fotografen, dem in kurzen Worten gerecht zu werden nicht einfach ist. Das liegt unter anderem an seiner langen und demzufolge ereignisreichen Lebensspanne – er wurde 1910 in Paris geboren und starb dort im Jahr 2009 im biblischen Alter von 99 Jahren.

Historiker wie Eric Hobsbawm, unwesentlich jünger und zwischen 1917 und 2012 in einer ähnlichen Zeitspanne unterwegs wie Ronis, sehen das 20. Jahrhundert ja als ein „kurzes“ Jahrhundert, lassen es mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 beginnen und mit dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges 1991 enden. Im Gegensatz zu seiner Popularität in Frankreich und insbesondere Paris ist Ronis in Deutschland fast nur Insidern und Liebhabern bekannt, auch im Handel beziehungsweise auf Auktionen ist er nur spärlich vertreten. Ganz anders seine Freunde und Weggefährten Henri Cartier-Bresson (1908 – 2004) oder Robert Doisneau, der 1994 mit 82 Jahren verstarb.

Ronis stammte aus einer litauisch-ukrainischen jüdischen Familie, in der Tradition seiner Mutter, einer Pianistin und Klavierlehrerin, wollte er ursprünglich Komponist werden. Die Erkrankung seines Vaters zwang ihn allerdings 1932 dazu, dessen Fotoatelier zu übernehmen, das er 1936, nach dem Tod des Vaters, verkaufte. Ab diesem Zeitpunkt begann er, als selbstständiger Fotograf zu arbeiten. Das wohl bekannteste Foto von Ronis zeigt einen kleinen Jungen, der mit einem Baguette unter dem Arm auf der Straße rennt. „Le petit parisien“ lautet der Titel. Aufgenommen wurde es 1952, also zwei Jahre bevor Cartier-Bresson das andere, mittlerweile ebenso klischeebehaftete Foto von einem kleinen Jungen machte, der mit zwei Rotweinflaschen in den Armen in der Rue Mouffetard stolziert.

Das wohl bekannteste Foto von Ronis zeigt einen kleinen Jungen, der mit einem Baguette unter dem Arm auf der Straße rennt. „Le petit parisien – Paris, 1952“ (85 x 66,5 cm) ist auf 8000 Euro geschätzt. © Artcurial, Paris
Das wohl bekannteste Foto von Ronis zeigt einen kleinen Jungen, der mit einem Baguette unter dem Arm auf der Straße rennt. „Le petit parisien – Paris, 1952“ (85 x 66,5 cm) ist auf 8000 Euro geschätzt. © Artcurial, Paris

Das Foto von Ronis kann man am 15. Dezember in Paris bei Artcurial erwerben, wenn – nach 2016 – die zweite Tranche aus dem Nachlass von Ronis versteigert wird. Das Foto wird in zwei verschiedenen Varianten angeboten, einmal als großformatiger und von Ronis signierter Abzug, der mit einem Schätzpreis von 8000 Euro versehen ist (85 x 66,5 cm; Blatt 129,5 x 87 cm); sowie in einer kleineren Version, abgezogen 2009 und ebenfalls signiert (31 x 25,7 cm; Blatt 40 x 30 cm). Dafür werden 2500 Euro erwartet. Die Auswahl der Fotografien, die aus der Sammlung von Ronis’ Enkel Stéphane Kovalsky stammen, ist ähnlich wie die aus dem Jahr 2016 und umspannt das gesamte Schaffen des Fotografen. Die Preise für die unterschiedlichen Formate sind durchgängig in etwa so, wie gerade angegeben, außerdem werden kleinere Konvolute sowie einige von Ronis zusammengestellte Mappen mit zehn Aufnahmen angeboten, deren Schätzpreis meist im mittleren vierstelligen Bereich liegt.

Zumindest 2016 konnte man für vergleichsweise moderate Preise sehr schöne, typische und sorgfältig abgezogene Arbeiten erwerben. Eine solche Vorgehensweise liegt durchaus im Sinne von Willy Ronis, dem es immer ausschließlich um den Gehalt seiner Bilder ging und weniger darum, Spekulationsobjekte zu generieren. Ronis stand stets auf der Seite der kleinen Leute und der Arbeiter, deren Alltag und Lebensumstände er mit greifbarer Sympathie, Engagement und Humor schilderte. Seine erste Fotografie hatte er 1935 an L’Humanité verkauft, die Parteizeitung der französischen Kommunisten. 1938 entstand als Teil einer Reportage für die Zeitschrift Regards eine weitere Inkunabel, nämlich die Aufnahme der Gewerkschaftsfunktionärin Rose Zehner bei einer Rede vor Arbeitern im Citroën-Automobilwerk während eines Streiks – im großen Format in der Auktion (83,5 x 66,5 cm; Blatt 129,5 x 87 cm; Taxe 8000 Euro).

Sieben Aufnahmen „Chez Yves Montand, 21 rue de Surène, octobre 1946“ zeigen den Chansonnier, Schauspieler und engagierten Aktivisten Yves Montand. Die um 1980 gefertigten Silbergelatine-Abzüge sollen mindestens 1000 Euro einspielen. © Artcurial, Paris
Sieben Aufnahmen „Chez Yves Montand, 21 rue de Surène, octobre 1946“ zeigen den Chansonnier, Schauspieler und engagierten Aktivisten Yves Montand. Die um 1980 gefertigten Silbergelatine-Abzüge sollen mindestens 1000 Euro einspielen. © Artcurial, Paris

Ronis war Mitglied der Partei bis 1968, als er unter dem Eindruck der Ereignisse des Prager Frühlings austrat. Das änderte jedoch nichts an seiner grundsätzlichen Haltung. In den Texten zu Ronis wird das immer ein bisschen wolkig ausgedrückt, man spricht von „humanistischer“ Fotografie oder einer „humanistischen Schule“ der Fotografie, meist wird Edward Steichens ab 1955 durch die Welt tourende Ausstellung „The Family of Man“, in der Ronis auch vertreten war, als Beleg herangezogen. In Frankreich oder auch in Italien gab es lange Zeit keine Berührungsängste mit einer sozialistischen Partei, selbst wenn sie sich kommunistisch nannte. Berühmt waren auch die regelmäßigen Feste unter dem Namen der Zeitung, die im Übrigen auch eine bedeutende Rolle in der Résistance spielte. Während der Okkupation musste Ronis als Jude und Kommunist nach Südfrankreich fliehen. Nach dem Krieg arbeitete er weiter als Reportagefotograf, unter anderem für Life, aber auch in der Touristik und in der Werbung, in der Mode, etwa für die Vogue, sowie dokumentarisch für Unternehmen wie Renault.

Eine etwas größere Abteilung der Auktion ist den Pariser Arrondissements gewidmet, die Ronis über längere Zeit erkundet hat und über die er 1952 einen grandiosen Bildband veröffentlicht hat: Belleville Ménilmontant. (Taxen 800 bis 4000 Euro). Pierre Mac Orlan hatte damals einen Text beigesteuert. Belleville, früher Heimat unterschiedlichster Migranten vor allem aus den ehemaligen französischen Kolonien, hat sich im Laufe von ungefähr drei Jahrzehnten bis heute zu einem schicken und angesagten Künstlerviertel mit Ateliers und Galerien gewandelt. Apropos: Künstler- und Intellektuellenporträts dürfen in Ronis’ Werk nicht fehlen, darunter selbstverständlich der Chronist der PCF (Parti communiste français) Louis Aragon („Louis Aragon chez lui, 1954“, Silbergelatine-Abzug, um 1970, Taxe 1000 Euro; „Elsa Triolet et Louis Aragon à Saint-Arnoult, 1952 / Elsa Triolet et Louis Aragon à Paris, rue de la Sourdière, 1954“, 5 Silbergelatine-Abzüge, um 1950, 1970 und 1990, Taxe 1500 Euro), Jean-Paul Sartre („Jean-Paul Sartre devant l’église Saint-Germain-des-Prés – Paris, 1956“, Silbergelatine-Abzug 1985, Taxe 800 Euro), Boris Vian (Boris Vian – Paris, 14 mai 1956“, Silbergelatine-Abzug, um 1960, Taxe 1000 Euro; Boris Vian – Paris, 14 mai 1956“, 4 Silbergelatine-Abzüge, um 1980, Taxe 1500 Euro) oder der als engagierter Aktivist tätige Yves Montand („Chez Yves Montand, 21 rue de Surène, octobre 1946“, 7 Silbergelatine-Abzüge, um 1980, Taxe 1000 Euro).

Die Aufnahme „Université technique de Dresde – Voyage en RDA, 1967“ entstand auf einer Reise von Willy Ronis in die DDR. Der 34,3 mal 23,5 Zentimeter große Silbergelatine-Abzug wird bei 1000 Euro aufgerufen. © Artcurial, Paris
Die Aufnahme „Université technique de Dresde – Voyage en RDA, 1967“ entstand auf einer Reise von Willy Ronis in die DDR. Der 34,3 mal 23,5 Zentimeter große Silbergelatine-Abzug wird bei 1000 Euro aufgerufen. © Artcurial, Paris

Den Abschluss der Auktion bildet ein hochinteressantes und aktuelles Konvolut von Aufnahmen, die Ronis 1967 auf einer Reise in die DDR angefertigt hat (Taxen 800 bis 2000 Euro). Auftraggeber war der 1958 in Paris gegründete französisch-deutsche Freundschaftsverband „EFA“ (Association Échanges franco-allemands). Diese Reportage war bis vor Kurzem in einer Ausstellung der Médiathèque de l’architecture et du patrimoine (MAP) im Espace Richaud in Versailles zu sehen. 1983 hatte Willy Ronis dem französischen Staat seinen Nachlass und seine Archive als Schenkung überlassen, seine Bibliothek, alle seine schriftlichen Aufzeichnungen, 20.000 Abzüge und mehrere Hunderttausend Negative samt Kontaktabzügen. Als Gegenleistung verlangte Ronis die Bereitstellung eines Appartements in Paris durch den Staat und den Erhalt der Einheit seines Archivs. Beides wurde genehmigt, Letzteres erlaubte eine kontextbezogene Rekonstruktion des als historisches Dokument hochinteressanten Werkblocks.

Ronis’ Aufnahmen aus der DDR sollten dem Zweck dienen, in Frankreich den Boden für die Anerkennung der DDR als eigenständiger Staat zu bereiten, entgegen der deutschen Hallstein-Doktrin, die allerdings 1969 unter der Regierung Brandt aufgegeben wurde. Wie sonst auch fotografierte Ronis aus seiner Sicht das Alltagsleben, auch die Arbeit, der normalen Menschen in ihren Räumen und Zusammenhängen, außerdem Künstler und Intellektuelle, darunter John Heartfield, dem er – nach eigener Aussage – besonders viel zu verdanken hatte („John Heartfield à Berlin-Est – Premier voyage en RDA, avril 1960“, Vintage-Silbergelatine-Abzug, Taxe 500 Euro).

Willy Ronis stand stets auf der Seite der kleinen Leute und der Arbeiter, deren Alltag und Lebensumstände er mit greifbarer Sympathie, Engagement und Humor schilderte. Ein um 1990 entstandener Abzug der Aufnahme „Rue de Ménilmontant - Paris, 1947“ wird bei 800 Euro aufgerufen. © Artcurial, Paris
Willy Ronis stand stets auf der Seite der kleinen Leute und der Arbeiter, deren Alltag und Lebensumstände er mit greifbarer Sympathie, Engagement und Humor schilderte. Ein um 1990 entstandener Abzug der Aufnahme „Rue de Ménilmontant - Paris, 1947“ wird bei 800 Euro aufgerufen. © Artcurial, Paris

Der Katalog der Ausstellung ist bereits zweisprachig erschienen, der deutsche Klappentext kann sich die Bemerkung nicht verkneifen, Ronis habe die Probleme des Systems lieber beiseitegelassen. Angesichts einer Auftragsarbeit und Ronis’ eigener Einstellung eine seltsame Einlassung. Die deutsche ideologische Verbohrtheit hat oft etwas Masochistisch-Selbstzerstörerisches. Ein bisschen mehr Entspanntheit und ein unvoreingenommener Blick auf andere Kulturen, in diesem Fall die französische – oder, wie hier, im Wechsel der Perspektive, die deutsche aus französischer Sicht –, könnten da nicht schaden. „Mehr Süden wagen“ – das hat Max Weber schon vor über einhundert Jahren seinen Landsleuten ans Herz zu legen versucht. Die Bilder von Willy Ronis bieten dazu eine erstklassige Anregung. Ob die Ausstellung über die DDR deutsche Stationen finden wird, wird sich zeigen.

Service

AUKTION

„Willy Ronis: Incontournables et inédits“

Artcurial, Paris

15. Dezember 2021

artcurial.com

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